Große Ferien
als bei anderen beunruhigt, was war es gewesen, dachte Schramm, das ihn, an besagtem Nachmittag, nicht lang nach dem Spiel, so hilflos gelassen hatte, so verzagt. Waidschmidt, der vorher alles ertragen hatte, gleichsam neben den anderen her lebte, das Gerede und die kleinen Hänseleien nicht hörte, nicht beachtete oder nicht verstand, und mit einem Mal unter lächerlichem Vorwand aufgefahren war. Man braucht doch einen Feind, hatte der Junge gesagt, sonst weiß man nicht, wo man steht. Und ohne Blinzeln hatte er Schramm angesehen, ohne überflüssige Bewegung bis auf das Zittern des rechten, etwas tiefer hängenden Lids.
Was gibt es da zu gucken, fragte Schramm. Es war schon vorgekommen, dass er einem drohte, mit der Hacke, dem Messer oder einem Stein, wenn sie sich beim Spielen zu lang, zu nah vor seinem Tor herumdrückten, Stirnen an die Stäbe pressten, zu ihm hinab in die Senke blickten und in den Vorgarten hinein. Passt auf, dass euch nicht die Augen aus dem Kopf fallen, rief er, aber besser und schöner war doch, gar nichts zu sagen, das Wirksamste, bloß den Blick zu erwidern, die Harke erhoben, den Spaten, wie man es erwartet von einem, der natürlich immer wunderlicher wird, ohne Frau und Kind, nicht einmal ein Hund. Aber dafür war es jetzt noch zu früh.
Er lässt nicht mit sich reden, hatte der Bruder zu seiner Frau gesagt. Einer kleinen, um vieles jüngeren Frau, die sich mit Vornamen vorgestellt hatte, mit auffallend tiefer Stimme sprach. Erst im Mai war das gewesen, der letzte Besuch, an den Schramm jetzt dachte, Anfang Mai, als die Abende noch empfindlich kühl gewesen waren. Anscheinend abgehärtet, frei von Kälteempfinden, war diese Frau selbst auf den Badfliesen und im Keller barfuß gegangen, ohne großes Fragen überall herumgegangen, dachte Schramm. Etwas hatte ihm nicht gefallen an ihr und am Umgang der beiden miteinander, etwas hatte gestört. Und es lag nicht daran, dass der Bruder, wie immer im Beisein von Dritten, in seinem Reden befeuert, geradezu verwandelt gewesen war. Es war ja gerade diese Verwandlung, wie Schramm sich immer wieder sagen musste, die, sosehr sie störte, vieles zwischen ihnen einfacher machte. Wenn sie miteinander allein, unter sich blieben, genügte oft schon etwas Kleines, um für anhaltende Gereiztheit zu sorgen, für einen Streit. Und es kam ihm eine ganz andere, wenig angenehme Erinnerung, an das Mutterbegräbnis und von da ausgehend an die Anspielung, die Viktor einmal gemacht hatte über Herrn Simon, besser gesagt, über die Mutter und ihre kleine, wie der Bruder es nannte, Sache mit Simon.
Stimmt etwas nicht, hatte der Bruder gefragt, habe ich etwas Falsches, oder: was habe ich jetzt wieder gesagt. Mit seinen Nachfragen wandte er natürlich nichts zum Besseren, er holte im Gegenteil das Ungute nur hervor. Und was man auf sich hätte beruhen lassen können, was noch nicht einmal eine schlechte Stimmung gewesen war, wurde, indem er es hin und her drehte, überhaupt erst zum Problem. Zum Beispiel das Begräbnis, dachte Schramm, und wieder kam ihm der Ärger hoch, obwohl doch, recht besehen, nichts Falsches passiert war. Als sie nämlich aufgestanden waren von ihren Plätzen an der Kaffeetafel, war das in Einigkeit geschehen, aufgebrochen waren sie, ohne jede Absprache einig, auf und davon zum plötzlichen Spaziergang. Ohne Mantel, mit schwingenden Armen. Das Altstadtpflaster bergab, in diese vom Ringanker der Umgehungsstraße eingefasste Schlucht. Den steifen Biegungen der aufgewölbten Katzenkopfgasse folgten sie, an spitzgiebligem Fachwerk entlang, wo in den Erdgeschossen ein Geschäft am andern stand in eng geketteten Reihen. Zur Rechten geschlossen, linker Hand in Abständen durchbrochen von schmalen Öffnungen zu einspurigen, mit Asphaltflickwerk ausgebesserten Verkehrsstraßen, bis das Gässchen in der Talsenke endete, sich aufweitete zum Platz.
Froh, wie befreit waren sie gewesen, allein durch dieses Gehen. Und unterbrachen, was sie redeten, wenn einer den anderen auf etwas am Weg Liegendes hinwies, ja, in Wahrheit, dachte Schramm, hatten sie über nichts geredet, als das, was sie sahen; alles andere, auch das weit Zurückliegende, leitete sich vom Angeschauten her. Vom Brunnen beim Roten Löwen, um den die Jugendlichen sich sammelten nach Schulschluss, auf den sandsteinernen Saum kletterten und mit baumelnden Beinen um das leere Becken herum saßen, unter den zappelnden Vorderfüßen des Bronzepferdes, das sich mit angelegten Ohren zur Levade
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