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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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lassen, ob einen das nicht mit der Zeit zu Tode langweile, Jahr für Jahr dieselben Sätze aufzusagen, nie hinauszukommen über die Grobheit einfachster Modelle. Gerade du, sagte der Bruder, ich, sagte er an anderer Stelle, könnte das nicht, und auch wenn er Bewunderung ausdrücken wollte, war das Abschätzige doch unüberhörbar.
    Mit Waidschmidt war es nie um äußere Umstände, mit Waidschmidt war es immer um die Sache selbst gegangen, und darin unterschied er sich, wie Schramm wenigstens zeitweise geglaubt hatte, von allen anderen Menschen. Darum war mit ihm ein Austausch möglich gewesen, wie er ihn sonst mit keinem hatte haben können, darum ließen sich mit ihm Gespräche führen, die diesen Namen verdienten, in denen es sich nicht um nächstliegende Absichten und private Wünsche drehte, sondern um etwas Allgemeineres, Ferneres. Und um etwas ganz anderes war es auch gegangen, als Waidschmidt ihn aus zurückgelehnter Haltung ansah und beiläufig, als erkundigte er sich nach seinem heutigen Befinden, fragte, sagen Sie mal, wie halten Sie das eigentlich aus.
    Musste man sich denn schämen, dachte Schramm. Was wäre dabei gewesen, hätte er zugegeben, dass es gerade dies war, was er an seinem Beruf am meisten schätzte: Er konnte den Kindern Sätze sagen, die sich nicht änderten. Und gewisse Eingrenzungen waren nicht nur unvermeidlich. Sie waren sogar hilfreich. Wer einmal versucht hat, eine Sache zu ihrem Ende zu denken, weiß, wie man sich verrennen und verkeilen kann. Hinter jedem Ganzen ein anderes Ganzes, dessen Teil jenes Ganzes ist und immer so fort, bis zu dem Ganzen, das nicht mehr Teil eines anderen ist und das wir darum nicht sehen, uns nicht vorstellen, nicht einmal denken können oder der Verstand läuft irr, eine aufgezogene, plötzlich losgelassene Spule. Das ist nicht gesund.
    Warum erzählen Sie uns nicht, was Sie wirklich wissen. Glauben Sie ernsthaft, wir könnten davon Schaden nehmen, hatte Waidschmidt gefragt: Wenn es bloß nach mir ginge, könnten wir gern ein wenig schneller voranschreiten. Sie sind Lehrer, Sie müssen die Dinge klären und nicht ein Geheimnis daraus machen. Mehr als einmal deutete er an, aus seiner Heimat anderes gewohnt zu sein: Wofür Sie hier ein Jahr brauchen, lernt man dort in einer Woche. Übrigens die einzigen Gelegenheiten, zu denen Waidschmidt überhaupt auf jenes Dort, die Heimat, zu sprechen kam. Die einzige Erinnerung, die für ihn von Wert schien an diese in einen sonnendurchglühten Steppenkessel gestellte Megasiedlung, diesen abgedienten Raketenstartplatz, wo sich die Zeit besser als anderswo zusammenpacken und vorwärtsschicken ließ.
    Mehrfach hatte Waidschmidt und mit ihm seine Mutter verlangt, dass er um mindestens eine Klassenstufe vorversetzt werde, jedes Mal hatte daraufhin die Deutschlehrerin einen seiner Aufsätze herbeigeholt. Kaum länger als eine halbe Seite, in kleinlichen Buchstaben aneinandergereihte Sätze, abgefasst in einem altertümelnden, wie die Lehrerin es nannte, sicher beherrschten, doch wohl angelesenen Deutsch. In einer Korrektheit, die man sich von seinen hier groß gewordenen Kameraden nur wünschen konnte. Aber die Gedanken, so die Deutschlehrerin, seien von kindischer Schlichtheit, ja Grobheit. Die gleiche Deutschlehrerin, die später meinen sollte, wäre man Waidschmidts Fähigkeiten gerecht geworden, hätte sich vieles vermeiden lassen. Aber aus diesen Debatten hatte Schramm sich herausgehalten.
    Er hatte das meiste versucht. Er hatte sich die Trainingsspiele angesehen, er war als einer der wenigen dabei gewesen, als Waidschmidt, nachdem es über Jahre still um ihn geblieben, mit einem Mal ausfällig geworden war. Darum hatte er im Sekretariat nach der Adresse gefragt, und man muss deshalb nichts Falsches denken. Beunruhigt, weil er ahnte, dass noch mehr geschehen konnte, hatte Schramm die Familie aufgesucht, in der winzigen Behausung: Mutter und Sohn auf zwei Zimmern, Küche, Bad, kein Quadratmeter toten Raums hinter einem eingelassenen Balkon, in einem der hundertzwanzig Vogelhorste, eingelassen in den oberhalb der Schienen in den Wald gehauenen Klippensturz.
    Eine senkrechte Wand, um grasige Schluchten gebaut, wo Wäschespinnen rostig ihre Arme streckten. Aus den Balkonnischen roch es nach Gekochtem, richteten die Satellitenschüsseln sich empor ins All, hinweg über die eng an den Siedlungsmauern entlang gefädelten Gleise. So nah, dass die gläsernen Schrankwandtüren und der Teetisch ins Zittern kamen, wenn der Zug

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