Große Ferien
eigens darauf hinzuweisen brauchte. Er könne nämlich gar nicht anders.
Von einem Patienten sprach er, von der Mutter eines Kollegen oder von einem in der Zeitung gelesenen Ereignis, und auch wenn diese Geschichten sein und Schramms Leben wenig berührten, verfingen sie sich doch in Anspielungen. Nie aus purer Lust erzählte Viktor, selbst die beiläufigsten Dinge erwähnte er stets in ganz bestimmter Absicht.
Ich wäre gekommen, sagte Viktor, auch ich hätte sie noch einmal sehen wollen. Jedes Mal aufs Neue beschwerte er sich, um den Abschied von der Mutter gebracht worden zu sein, weil Schramm ihm das Nahen ihres Endes vorenthalten hätte. Auf der Stelle hätte ich die Praxis geschlossen und wäre gekommen, hättest du mir nur rechtzeitig Bescheid gegeben, es geht niemals einfach so zu Ende, behauptete Viktor, es kündigt sich an. Er hatte mit den Ärzten gesprochen, sich die Berichte zeigen lassen; allein auf Grund dieser von anderen gemachten Aufzeichnungen war er zu seinem Urteil gekommen. Von seinen hellen Praxisräumen aus, wo er seinen Patienten Rezepte schrieb.
Zur Trauerfeier war er angereist, gesammelt und beherrscht, gerade in seiner Art der Beherrschtheit allerdings hallte noch der Vorwurf. Wie braun er ist, flüsterte Frau Schlaudt Frau Klaußner zu, als sie beim Abraum standen, der Bruder einen Kopf größer als Schramm, im schwarzen Hemd, ein Schimmern aus Schweiß und abdeckender Creme auf seinem Gesicht. Und es war richtig, er hatte seine Bräune gepflegt, seit er in Zentralamerika gelebt hatte, Arzt gewesen war in einem von Nonnen geführten Armenkrankenhaus. Zwanzig Jahre oder länger hatte er dort verbracht, im Hinterland, in einem von allen Verkehrswegen abgeschiedenen Bergdorf, und auch wenn es darum für einen Doktor nie gereicht hatte, war er jedenfalls, entgegen allen Erwartungen, Arzt geworden, ein richtiger, wahrscheinlich nicht einmal ein schlechter, Arzt.
Wenige Wochen vor dem Tod der Mutter hatte Schramm noch einen Ausflug mit ihr unternommen, Ausflug, ein hoch gegriffenes Wort! Vom Stift aus, um den Friedhof herum, zum Waldfetzen mit dem Trimm-dich-Pfad. Sonntags waren sie ihn früher abgegangen mit dem Vater, alle gemeinsam, jeden Sonntag Bockspringen, Klimmzüge und Slalomlauf. Jeder, wie er kann! hatte der Vater gerufen, unklar, ob aus Nachsicht oder als Ansporn. Später lachte man über die kaum einen Kilometer weite Strecke, den breit angelegten Pfad. Zuletzt mit der Mutter war er wieder so lang geworden wie in der Kindheit. Mit ihrem Gehwagen, der auf dem unebenen, schlecht gepflegten Weg doch eher ein Hemmnis als eine Hilfe war. Was, wenn sie stürzte. Er würde sie unmöglich tragen können. Schramm verstand nicht mehr, wie er auf diese Schnapsidee gekommen war, ein Ausflug, wozu das noch gut sein sollte, beschimpfte er sich, indessen er neben ihr her ging, stehenblieb, wenn sie das dreirädrige Gestell anhob, um eine Schrittweite nach vorn brachte, ein Bein nach dem anderen hinterhersetzte, Atem holte, die Griffe nachfasste und wieder anhob. Doch bei allem Ärger war Schramm froh über die verlässlich in ihm weiterrollenden Selbstbeschimpfungen, solange er mit ihnen beschäftigt war, stieß er sich wenigstens nicht daran, dass sie nichts Rechtes miteinander zu reden hatten. Wahrscheinlich war das nun auch gar nichts Wichtiges mehr, wahrscheinlich musste jetzt endlich nicht mehr geredet werden, jetzt, da sie genug damit gefordert war, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ausgefallen war ihr klapperndes Fragen, was es Neues gebe, wie der Tag gewesen sei, und, in ernsterem, drängenderem Ton: ob er von Viktor gehört habe. Auf diese Fragen hin hatte Schramm zu lügen angefangen. Der Bruder sei doch wieder nach Nicaragua gegangen, hatte er ihr erzählt: Sie brauchten ihn nötiger dort. Wohl war ihm mit seinen Lügen nicht, und es kam nicht dahin, dass er sie sich mit jedem Aussprechen selbst ein wenig mehr glaubte. Denn mit jedem Aussprechen hörte er die Belehrungen des Bruders wieder: Es gehe nicht darum, den Menschen zu helfen, weil sie es brauchten. Darin eben liege der Irrtum. Am erfolgreichsten, sagte er, ist man dann, wenn man sich selbst überflüssig gemacht hat, das mag schwer zu begreifen sein, doch ist es bei dir nicht genauso?
Noch nach dem Tod der Mutter fand Schramm sich, auf dem Heimweg von der Schule, beim Mittagessen oder wenn er über einer Korrektur abschweifte, dabei, in Gedanken Antworten zu formulieren auf ihre Frage, was es Neues gebe. Zum
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