Große Ferien
Schluss war er nicht mehr oft ins Stift gegangen. Nicht, dass er es bewusst gemieden hätte, aus Unwillen. Erst nachdem eine, dann noch eine Woche, bald ein Monat ohne Besuch verstrichen war, fiel es ihm auf. Er müsste öfter nach ihr sehen. Doch wahrscheinlich machte es für sie keinen Unterschied, wenn ihm dann wieder etwas dazwischenkam, und er musste sich eingestehen, dass auch ihm nichts fehlte, wenn er den Besuch noch ein weiteres Mal ausfallen ließ. Ihre Sprüche, ihre bis zuletzt auswendig gewussten Sätze und Fragen: Ich kann dir hier gar nichts anbieten, und: Was gibt es Neues, und: Bleibe ich jetzt für immer hier. Nachdem eine Frage beantwortet war, kam bald die erste wieder und dann die zweite noch einmal. Es war mühsam. Trotzdem erschrak er zu Tode, als sie aus dem Stift in der Schule anriefen, und gleich nach der Nachricht kam das schlechte Gefühl.
D as Telefon war auf die höchste Lautstärke eingestellt, überhören ließ es sich nicht! Wenn es wichtig ist, dachte Schramm, wird es wohl warten können. Im Laufen rieb er den Erdstaub aus den Hautrillen seiner rechten Hand. Es macht nichts, sagte er, noch in das Ende von Viktors weitschweifigen Erklärungen hinein. Ein Unfall war geschehen. Genau verstand Schramm es nicht. Auf dieser geraden Straße, eine Straße wie mit dem Lineal gebaut, sagte Viktor. Über Hunderte von Kilometern bauen sie sie geradeaus, weil es keine Hindernisse gibt, und damit nichts passiert, stellen sie diese Plastiken am Wegrand auf, völlig geschmacklose Kunststoffdinger, damit man nicht einschläft, nicht das Hinsehen vergisst.
Wieder das Brausen. Schramm hielt den Hörer im Abstand zu seinem Ohr. Der Bruder musste aus dem Auto gestiegen sein. In der offenen Tür, auf das Dach gestützt, blinzelte er auf die vor ihm gereihte Kolonne. Kannst du das glauben, sagte der Bruder. Und beschrieb, so genau, wie er es unmöglich vor sich haben konnte: die beiden Wagen, auseinandergeschleudert, Schnauzen zueinander, ein Tanklaster, zur Seite gekippt, der kleinere Peugeot rücklings, Räder in die Luft, ein Tier, das die Kehle hinhält.
Wir hätten doch den Weg über die Dörfer nehmen sollen, sagte der Bruder, es ist zu lächerlich, meinte er, schon fast bei der Grenze und jetzt das. Er schlug mit der Hand auf das Autodach. Ein Hieb, dann war es still, rieb er sich, in erschöpfter Gebärde, die Augen geschlossen, mit Daumen und Zeigefinger die Haut über dem Nasenbein, wo sonst das Brillengestell auflag. So kannte Schramm ihn. Er sah es vor sich, das reibende Fingerpaar, die Bewegung eines Nickens in einem augenlosen Gesicht. Im Wagen die Frau, die nackten Füße auf dem Armaturenbrett, der Rocksaum um die Waden gerafft. Der Rock mit den Glitzerfädchen, an den er sich jetzt erinnerte, an diesen Rock und ihren Geruch, als sie sich zu ihm hinaufgereckt hatte, um ihm zum Abschied die Wangen zu küssen. Nach einer Mischung aus Tabak und Puder hatte sie gerochen und noch nach anderem, das er nicht genauer bestimmen konnte.
Ob es Verletzte gab. Woher soll ich das wissen, erwiderte Viktor, wir werden später kommen, nur damit du dich darauf einstellen kannst. Hier ist alles vorbereitet, sagte Schramm. Und hörte endlich auf, mit der freien Hand an den Seiten des Cordhosenbeins entlangzustreichen, mit dem Strich und gegen den Strich, auf und nieder. Er trat näher ans Fenster heran, um noch einmal den hinteren Teil des Gartens zu besehen, wo kein Stein mehr auf dem anderen lag.
Vor Tagen waren sie da gewesen. Aber wenn er auf die aufgeworfenen Erdbrocken, die Krater in der Grasnarbe blickte, war es, als hätte er die Verwüstung eben erst entdeckt. Es setzte sich in seinem inneren Bild der Gartengestalt nicht fest. Weil die einmal im Kopf angelegte Architektur, dieses Gebäude in Gedanken ausdauernder, schärfer gezeichnet, zuletzt glaubhafter war als das öde Land, das er tatsächlich sah. Sie waren jede Nacht wieder gekommen, hatten in den vollständig zertretenen Beeten gewühlt, die immer gleichen Stellen wieder aufgescharrt. Nicht um der Beute willen, nicht aus einem Lebensinstinkt heraus gruben sie. Sondern aus purer Lust.
Über niedergetrampelte Zäune hatte er auf die angrenzenden Gärten gute Sicht. Aufgebrochen die Rollrasen, zerrissen die Plane, mit der der Nachbar die für das Schwimmbad freigelegte Erde bedeckt hatte, mit Klinkersteinen beschwert. Wind riss an den Folienfetzen, dass sie flatterten. Etwas Menschliches war an dieser Bewegung, was Schramm amüsierte. Das
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