Große Ferien

wenn er sich ins Bewusstsein rief, wie Viktor von Gleichaltrigen, vom Vater und auch von ihm selbst dafür ausgelacht worden war, wurde es wieder ruhig um ihn, und leicht konnte Schramm glauben, dass alles Ahnen und Mutmaßen Unfug gewesen war.
    Das Wohnheimzimmer war angemessen klein, nur einen Schritt musste der Bruder tun, vom Fenster weg, zum Schreibtisch hin, nach dem zuoberst auf dem Stapel liegenden Band greifen, eine Frage stellen. Man konnte es nicht verstehen, wenn man nicht im Gröbsten die Voraussetzungen kannte. Aber Viktor stand und blätterte in den Atlanten, die am Boden, auf dem Tisch um die Maschine lagen. Zuerst noch verlegen, dann immer begeisterter, sich selbst vergessend, geriet Schramm ins Reden auf die Fragen des Bruders hin, vom Einfachen ins Zusammengesetzte und endlich zu der für sich genommen winzigen Problemstellung, und warum es ihm mit der Antwort dringend war. Ob der Bruder ihm noch folgte, fragte Schramm sich, weiterredend, unterdessen die Sätze länger schwangen, aber Viktor stand still, einen Finger an der Tischkante, den Blick über Schramms Schulter gerichtet, auf das in die Maschine gespannte Papier. Und las, obwohl er nichts davon verstand, die schon geschriebenen Zeilen. Das ist also, womit du dich beschäftigst, meinte er nur, leichthin, als hätte er eben gerade so viel, wie er wissen wollte, erfahren, besser gesagt: als hätte er es im Grunde alles längst gewusst. Nichts Abfälliges war in seinem Ton, weitere Fragen stellte er nicht. Und trotz, oder besser gerade wegen dieses Schweigens hatte sich wieder dieses missliche Gefühl eingestellt. Eine kleine, unentschlossene Bewegung, ein durch unzureichend gedichtete Fensterfugen gekrochener Zug. Er blieb, noch nachdem Viktor längst wieder aus der Wohnung verschwunden war.
    In einem, wie es wirklich heißen musste, Hochgefühl, jedenfalls in einem für den Moment zum ersten Mal von allen Zweifeln, auch allem Zwang befreiten Zustand, hatte Schramm geschrieben, gerechnet, seine Graphen gezeichnet, freihändig und punktgenau, ohne Verfälschungen, so dass die Linien, mit all den vernachlässigbaren, minimalen, doch sichtbaren Ausschlägen, wenn man zu lang hinsah, in Bewegung gerieten. Seite um Seite, wie er sich jetzt erinnerte, hatte er gefüllt und war, in einigen wenigen Tagen, auf gut über die Hälfte der abzuschließenden Arbeit gekommen, ja hatte sie, ohne es sich recht vorgenommen zu haben, in dieser kurzen Zeit beinahe zu ihrem vollständigen Abschluss gebracht. Warum hatte das aufgehört, kurz bevor er zum Ende gekommen war, was hatte ihn unvermittelt derart ins Brüten gebracht. Schramm verstand es nicht.
    Viel später erst hatte er Viktors eigentliche Meinung zu hören bekommen. Es sei ihm immer seltsam vorgekommen, wie einer über Entstehung und Beschaffenheit einer Landschaft schreiben könne, ohne je dort gewesen zu sein. Jahre hatte Schramm nicht mehr daran gedacht, längst war er ausgezogen aus dem nach Nordwest ausgerichteten Zimmer im elften Geschoss, dem Turmzimmer, wie der Bruder es genannt hatte, wohin die Trillerpfeife des Fußballtrainers vom Platz herauf gellte und, je nach Windrichtung, sein Gebrüll.
    Zufällig hatte er diese Bemerkung des Bruders aufgeschnappt auf einem Fest, in einer hochwandigen, mit abgewetztem Holz ausgelegten Wohnung, die Schramm jetzt wieder vor Augen hatte. Gerahmte Kinderzeichnungen an den Wänden eines schmalen Flurs; gut durchlichtete Räume, eine Zimmerflucht. Durch offene Flügeltüren hatte er den Bruder aus der Entfernung beobachten können, wie er auf der Balkonbrüstung saß, sein Glas im Reden schwenkte, sinnend unter sich auf die wenig befahrene Stadtstraße blickte. Du musst doch einmal unter Menschen, hatte er gesagt, dachte Schramm, mit diesen Worten hatte er ihn mitgenommen auf jenes Fest, einmal unter Menschen, wiederholte Schramm leise und böse. Jedenfalls hatte Viktor ihn im Anschluss nicht ein einziges Mal mehr mit seinen Bekannten zusammengebracht. Du hast dich doch nur gelangweilt, behauptete er, ich habe doch gesehen, dass du dich langweilst.
     
    Schramm zog die Haut vom Nusskern, er zerrieb sie zwischen den Fingern zu Pulver. Er spürte die Wut nicht anfliegen, immer war sie gleich ganz da. Als Kind hätte er dem Bruder eine gepfeffert, wie es oft geschehen war; oft, und nicht nur von ihm hatte Viktor, trotz seiner Brille und obwohl er viel zu leicht Nasenbluten bekam, Prügel eingesteckt.
    Viktor war es, der noch Jahre später die Rede auf diese