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Große Ferien

Große Ferien

Titel: Große Ferien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nina Bußmann
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nur dort auf die sonst allerorten üblichen Formeln verzichtet hatte, dachte Schramm. Einen guten Morgen wünscht der Lehrer zu Beginn der Stunde, zum Abschluss ein Wiedersehen, eine Antwort bleibt aus. Auch seine Zusammenkünfte mit Waidschmidt waren nie mit einem herzlichen Gruß, sondern stets auf diese Art beendet worden, mit einem Hinweis auf die Zeit oder einem Blick auf das Blinkzeichen, oft genug mit einem abgebrochenen Satz. Gut möglich, dass der Junge geschwiegen hatte, geschwiegen oder abgeleugnet, weil auch ein Waidschmidt sich schämte, selbst für Dinge, die gar nicht geschehen waren, weil er sich wie jeder darum scherte und Sorge hatte, wie die anderen ihn sahen, deshalb musste er alles abwehren, als hätte es nie auch sein Interesse geweckt, deshalb, dachte Schramm, diese Pose, diese Sprüche. Ich kann nicht warten, bis ich hier raus bin.
    Es hat schon viele gegeben wie dich, dachte Schramm, zerdrückte die Schalen und kaute die Nüsse, es müssten bald neue her. Zu warten hatte keinen Sinn, das wusste er. Und er dachte an den Tag, als der Bruder, in seiner Lederjacke, mit seinem Bart, vor seiner Tür gestanden hatte, mit nichts bei sich als einem ausgebeulten, an Stellen löchrig geriebenen, geschnürten Stoffsack, nachdem sie für Jahre kein einziges Wort gewechselt hatten. Mit beiden Armen hielt er das Bündel vor dem Bauch. Am späten Vormittag, Anfang des Herbstes, ein rasch eingetrübter Frühherbst, eingedampft zu einem einzigen langen Tag in einer Schutzglocke aus Funzellicht, darunter Schramm am Abschluss seiner größer angelegten Studie arbeitete, die er noch im selben Herbst, Wochen später, ohne genau benennbaren Grund für immer beiseitelegen sollte.
    Zuvor für Jahre kein Kontakt. Wer hat dir die Adresse gegeben, fragte Schramm. Wie lange waren sie auseinander gewesen. Bärtig, die Augen gerötet, stand der andere da, am Ende des tarnfarben ausgelegten Wohnheimkorridors, und fasste sich in den Nacken. Einen Stoß straßennassen Kleidergeruchs brachte er vor sich her in das Zimmer hinein. Vier oder fünf Jahre, Schramm kam nicht auf die exakte Zahl, wusste nur, dass er in jenem Moment erschrocken war, weil er meinte, es müsste länger her gewesen sein. Nur für ein paar Tage, verlangte Viktor. Ich habe sonst nichts.
    Und was schreibst du da eigentlich, fragte er, nachdem er bereits mehr als ein paar Tage, bald eine Woche, verbracht hatte bei ihm. Als wäre ihm gerade eben jetzt diese Erkundigung in den Sinn gekommen, nachdem er lang genug sein Arbeiten ohne Neugierde, ohne eine Anmerkung zu machen, beobachtet hatte, dachte Schramm, als das Selbstverständliche genommen hatte, das es für ihn selbst sein musste und bis dahin gewesen war. Über ganz andere Dinge hatten sie gesprochen, wenn sie abends saßen, an dem klappbaren Tisch bei der Anrichte, mit dem Tauchsieder Wasser aufbrühten für den schwarzen Tee. Vor allem der Bruder hatte geredet. Von seinen Plänen, Arzt zu werden, doch vor allem von weit außerhalb liegenden Dingen, über die er sich merkwürdig erregte. Über die Sonderbehandlung in den Gefängnissen, über den amerikanischen Film, die Ehe nicht im Besonderen, sondern als ein, wie er meinte, das Zusammenleben aller Menschen berührendes Problem. Wie er sich ereifert hatte. Schramm hätte damals gern mehr erfahren. Was der Bruder plante mit seinen Freunden, ob sie schon etwas getan hatten oder all das Sprechen vom Umsturz nur leeres Gerede war. Schramm hatte Bilder gesehen, von den Entführten, übel zugerichtet, von den Gesuchten auf Plakaten, den Gefangenen, die es zuwege gebracht hatten, sich trotz genauester Überwachung im Gefängnis das Leben zu nehmen. Alles erlogen, behauptete der Bruder: Nichts davon ist wahr.
    Oft für Stunden am Fenster hatte er gestanden, während Schramm schrieb, und über den gleich an das Wohnheim grenzenden Sportplatz geschaut. Sonst nichts. Schramm machte sich Sorgen, obwohl er seine ganze Hirnkraft für die Arbeit gebraucht hätte, machte er sich Sorgen, und versuchte sie fortzuzwinen mit anderen Erinnerungen. An die Unbeholfenheit des Bruders in der Kindheit, daran, wie er, wegen seiner Brille und seiner Krankheiten, vom Turnen freigestellt worden war. An die kleinen, sinnlosen Übungen, die er daheim veranstaltet hatte, im Garten, mit einem bunten, schlaff aufgeblasenen Ball. In die Luft geworfen, senkrecht in die Höhe, damit er senkrecht wieder zu ihm niederfiel, wie ein Mädchen, dachte Schramm, hatte er mit dem Ball gespielt. Und

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