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Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba

Titel: Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
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wütete. Sie spürte, dass jede Vollkommenheit dieses Gefühls sie mit einem Schlag zerrissen hätte. Es strömte durch ihre Adern wie lodernde Glut. Sie blickte hinab, sah die Schafe unter sich – und das blaue Feuer, das tosend über die Tiere hinwegfegte. Das Entsetzen schnürte ihr die Luft ab. Sie entdeckte eine reglose Gestalt am Rand der Weide – den schwarzen Wolf, der durch die Herde preschte und den Schafen das Fleisch zerriss. In ihrem Innersten fühlte sie das Grollen des Drachen wie ein Spiegelbild ihrer eigenen Erschütterung. Kayron war es gewesen. Er hatte die Schafe getötet.
    Für einen Moment sah sie die boshafte Glut in den Augen des Jägers aufflammen. Dann hörte sie das Keuchen des Wolfs, als sich dieser im Blutrausch in den Wald stürzte. Sie erkannte sich selbst, eine winzig kleine Gestalt inmitten der Finsternis. Schon meinte sie den Wolf über sie herfallen zu sehen, doch da glitt ihr Schatten über das Tier hinweg und schlug ihn mit Eiseskälte in die Flucht. Lautlos landete sie im Unterholz, nur wenige Schritte von sich selbst entfernt. Sie sah sich am Boden liegen, sah, wie sie in die Dunkelheit starrte, erkannte die Furcht, die Neugier, die Sehnsucht in ihrem Blick – und fühlte, wie der Zorn tief in dem mächtigen Drachenleib einem anderen Gefühl wich. Sie hielt den Atem an. So oft hatte sie auf diese Weise empfunden – jedes Mal, wenn sie den bunten Himmel des Gewitters über der Klippe gesehen hatte; jedes Mal, wenn die Schwarzen Schwäne gen Süden gezogen waren und die Funken ihres Gefieders als rote Blüten auf die Felder niedergefallen waren; jedes Mal, wenn sie all den Geschichten ihres Vaters gelauscht hatte. Sehnsucht war es, die den Drachenkörper durchdrang, und erstmals, seit Rima denken konnte, nahm sie sich selbst wirklich wahr. Sie sah das Kind, das Mädchen, die Jägerin. Sie sah die Tochter, die sich im Dunkeln fürchtete, und fühlte gleichzeitig die Kraft, die in ihrem Innersten schlummerte, ohne dass sie etwas davon ahnte. Zeit ihres Lebens hatte sie sich nach dem Geheimnis gesehnt, hatte es überall vermutet – im Zug der Wolken, in der Ferne, in der Welt jenseits des Meeres. Nun begriff sie, dass es nicht allein in den Feuerfarben des Himmels lag, nicht in den Schuppen eines Drachen oder in den Worten eines Toten. Es war überall um sie herum. Das Geheimnis lag in ihr selbst.
    Das Bild zerbarst, als Rima auf dem Höhlenboden aufschlug. Erst jetzt hörte sie den Schrei des Drachen: Er durchdrang sie, als stieße sie ihn selbst aus, und ein Schmerz durchzog ihre Brust, wie sie ihn noch nie zuvor gespürt hatte. Sie presste die Hand an ihren Leib und erwartete, Blut zu sehen, doch es war das schwarze Blut des Drachen, das den Boden flutete. Er schwankte heftig, seine Schwingen trafen die Wände und ließen deren Trümmer donnernd herabprasseln, aber Rima bemerkte es kaum. Alles, was sie wahrnahm, waren die Augen des Drachen. Sie erkannte die Schwarze Flamme darin, die Grausamkeit, von der die Lieder ihres Volkes erzählten, und die Tücke, die sie aus den Legenden der Menschen kannte. Rima fühlte die Kälte, die aus jeder Pore dieses gewaltigen Körpers drang. Doch hinter der Schwärze, tief in der Dunkelheit, die sie mit tödlichem Griff umfasst hatte, lag etwas anderes, etwas, das Schmerz kannte und Erstaunen und Hingabe, etwas, das ihr ins Herz schnitt und sie erzittern ließ, obwohl sie die Flammen um sich herum kaum noch ertrug. Sie stürzte in die Schatten, die der Drache war, und sie fand den Namen, der dort auf sie wartete. Dieses Wesen war ein Wunder, und seine Augen waren nicht schwarz. Sie waren golden.
    Regungslos schaute der Drache auf sie herab. Für einen Moment meinte sie, seine Stimme in ihren Gedanken zu hören. Dann warf er sich herum und raste durch den Tunnel davon.
    Benommen kam Rima auf die Beine. Sie musste sich am Felsen stützen, so heftig erfasste ein Schwindelgefühl ihre Sinne. Rima zwang sich, zu Kayron hinüberzublicken, der schwer atmend an der Wand lehnte. Eine tiefe Wunde zog sich über seine Stirn, aber sie schloss sich bereits wie durch Zauberhand, und als er den Blick auf Rima richtete, ging ein düsteres Flackern durch seine Augen.
    »Ihr wart das«, flüsterte sie. »Ihr habt die Schafe getötet.«
    Kayron stieß verächtlich die Luft aus. »Du bist außergewöhnlich klug für eine deines Volkes«, erwiderte er kalt. »Die Nordmänner haben einen Narren an euch gefressen – sie schützen euch, als wärt ihr es wert. Nur

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