Grosse Geschichten vom kleinen Volk - Ba
starrte stattdessen auf den Boden. Bei der Suche nach einer Fährte streifte er Wasserperlen von umgebogenen Grashalmen und hinterließ einen silbrigen Streifen in der Wiese. Im feuchten Gras würden sich sicherlich auch die Spuren des Monsters abzeichnen.
Die Büttel mochten ein Auge auf Broichhus haben, aber Skaggi war allein da draußen. Furcht trieb Haru an, aber seine Augen schärfte sie nicht. Nachdem er zum dritten Mal erfolglos die Eiche umkreist hatte, musste er sich geschlagen geben. Tirza saß immer noch da, ein Bein lässig über das andere geschlagen, und wackelte dann und wann mit den Zehen.
Haru drehte sich mit hängenden Schultern zu ihr um. »Gut, ich brauche deine Hilfe.«
Tirza kam federnd auf die Füße. »Na, dann lass uns weitermachen.« Unablässig wanderte ihr Blick über die Heide. »Siehst du, das Wesen trägt keine Schuhe und hat auch keine Zehen wie wir.« Sie zeigte auf einige abgerissene Halme, schob einen zerquetschten Huflattich beiseite und offenbarte den rundlichen Abdruck darunter. »Pflanzen erholen sich schnell von einem flüchtigen Tritt …«
Die Luft war diesig, Feuchtigkeit glänzte auf jedem Blatt, und der Dunst verwischte die Konturen.
Beklommen bemerkte Haru, dass sie dicht beim alten Hünengrab vorbeikamen. Führte Tirza ihn mit voller Absicht hier entlang, weil sie seine Gruselgeschichte belauscht hatte? Reblingern steckte Schabernack im Blut, und sie waren wenig vertrauenswürdig. Immerhin hatten sie einst das Schwein gestohlen, das zur Ursache des ganzen Zanks geworden war.
Im Kielwasser dieser Erinnerung kam Haru ein abwegiger Gedanke. Vielleicht war alles nur ein Streich der Reblinger, die den Bräutigam entführt hatten und den Broichhusern zwecks Ablenkung eine Schauermär auftischten. Immerhin hatte die Jägerin zugegeben, von der Hochzeit zu wissen, und ihn sogar daran gehindert, das Ungeheuer anzugreifen. War sie bei der Eiche etwa stehen geblieben, um ihren Kumpanen mehr Zeit zu verschaffen?
Haru musterte Tirza von der Seite und versuchte, ihre wahren Absichten zu lesen. Schließlich hatte er für den angeblich blutigen Überfall auf den Händler nur ihr Wort.
»Hier geht’s zu dem Riesengrab«, stellte er fest, um ihr auf den Zahn zu fühlen. »Wäre doch möglich, dass der Klumpen dort Unterschlupf gefunden hat. Sonst gibt es ja nicht viel auf der Heide.«
Tirza nickte anerkennend. »Das kann sein. Die Spuren weisen auf alle Fälle in diese Richtung.«
Haru glaubte in Wahrheit nicht daran, dass ein Ungeheuer die Stätte kannte. Dieser Zufall wäre zu zufällig . Wollte man allerdings jemanden verstecken, wäre das abgelegene Hünengrab ideal. »Vielleicht sollten wir uns aufteilen, um ihn in die Zange zu nehmen?«, schlug er vor.
Bevor Tirza Einwände vorbringen konnte, eilte Haru los. Er hörte sie leise fluchen, ließ sich aber nicht aufhalten. Als könnten nur Reblinger andere hereinlegen! Nachdem sie vor vielen Jahren das Preisschwein des Bürgermeisters gestohlen hatten, um es anlässlich eines Festmahls zu verspeisen, war die Broichhuser Jugend noch am gleichen Abend in deren Dorf geschlichen und hatte dort alle Schweine betrunken gemacht und ihnen die Ringelschwänze gestutzt. Sie hatten die Schwänze auf ein Brett genagelt und an der Hauswand des Bürgermeisters angebracht. Die Reblinger hatten damals vor Scham lauter gequiekt als ihre Schweine. Bis heute galten in Fett ausgebackene Teigröllchen in Ringelform als Broichhuser Delikatesse.
Bestimmt wartete Skaggi irgendwo da vorn, bewacht von Tirzas Bruder und seinen Kumpanen. Wo hatten die Reblinger bloß den Koloss her? Oder legte jemand diese Spur? Nur was hatte sie dann am Feuer angegriffen? Das Ding war ziemlich groß gewesen. Haru musste jetzt vorsichtig vorgehen, wenn er die Übeltäter auf frischer Tat ertappen wollte.
Er fasste den Hirtenstab fester. Damit würde er kräftig auf den Busch klopfen und sie das Laufen lehren. Noch heute schworen die Reblinger Stein und Bein, dass Broichhus die Sauen bei der Vergeltung so übel verletzt hatte, dass sie nur noch Kümmerlinge warfen. Dieses Pack! Die einzigen Kümmerlinge in Reblingen waren …
Haru hielt inne und machte den Hals lang. In dem flüchtigen Nebel, der über der Heide wogte, konnte sich nichts und niemand verbergen. Vor ihm lag der schwarze Aschehaufen, wo jeden Sommer unzählige Lagerfeuer brannten. Hier musste das Grab sein, genau daneben. Aber das steinerne Tor, der ›Esstisch der Riesen‹ – war verschwunden!
Der
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