Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
»Ich weiß nicht«, sagte er, »findest du nicht, dass es vielleicht doch ein bisschen zu riskant war, nur um einen Pilz für unser Essen zu finden?«
Bonne starrte seinen Bruder ungläubig an, als ob dieser das Leben selbst in Frage gestellt hatte.
»Das sagst du nur, weil ich ihn gefunden habe«, fauchte Bonne. »Das kann doch wohl nicht dein Ernst sein. Gespickter Hasenrücken, Stampfkartoffeln und Rübenmus, woraus willst du bitte schön eine Soße dafür machen? Denkst du vielleicht wieder an eine von deinen berüchtigten Mehlpampen mit Wasser und Muskat? Pfui Teufel, sage ich. Du solltest dich selbst einmal reden hören.«
In seiner Rage dauerte es einen Moment, bis Bonne das breit grinsende Gesicht seines Bruders richtig zu deuten verstand. Erst als Milo in schallendes Gelächter ausbrach, wusste er, dass sein Bruder ihn auf den Arm genommen hatte.
»Komm, lass ihn uns vorsichtig vom Stein schneiden«, schlug Milo versöhnlich vor. »Wenn wir uns beeilen, sind wir rechtzeitig zum Abendbrot wieder zu Hause.«
Der Vorschlag war ganz nach Bonnes Geschmack. Er zückte ein kleines Jagdmesser und führte die Klinge behutsam zwischen Pilzfuß und Schiefergestein.
»Sei vorsichtig«, warnte Milo seinen Bruder. »Schneide nicht in den Stängel, sonst blutet er aus.«
»Das ist nicht die erste Blutmorchel, die ich aus ihrer gewohnten Umgebung schneide«, beruhigte ihn Bonne.
Langsam glitt der kalte Stahl zwischen Stein und Schwamm und trennte die ungleiche Symbiose. Ein leises Schmatzen war zu hören, als sich das Pilzgeflecht von dem toten Stein löste. In Siegerpose hielt Bonne die Blutmorchel hoch.
Milos Blick blieb jedoch starr auf dem Stück Schiefergestein haften. Der Halbling wirkte wie gelähmt und reagierte erst, als sein Bruder ihn unsanft in die Seite knuffte.
»Was passt dir jetzt schon wieder nicht?«, erkundigte sich Bonne.
»Wo hast du den Stein her?«
»Lass mich mal nachdenken«, frotzelte Bonne. »Das ist alles schon so lange her. Es ging, glaube ich, gar nicht um den Stein, sondern um irgendetwas anderes. Was war es nur? Ach ja, dieser Pilz hier.« Erneut reckte Bonne die Blutmorchel in die Höhe und wartete auf Beifall. »Der Stein klebte nur daran fest. Du kannst ihn haben, wenn er dir gefällt. Bohr ein Loch hinein, mach eine Kette dran und häng ihn dir um den Hals, wenn du das nächste Mal schwimmen gehst, du Spaßbremse.«
»Das sind Runen, wie sie von Magiern verwendet werden, wenn sie ihre Zauber wirken«, stammelte Milo und zeigte auf die dünnen weißen Linien, die sich deutlich vom schwarzen Schiefer abhoben.
»Quatsch«, winkte Bonne ab. »Das ist das Wurzelgeflecht, das vom Pilz daran kleben geblieben ist.«
»Die Zeichen sind viel zu regelmäßig«, gab Milo zu bedenken. »Das hier zum Beispiel oder dieses, gleich zweimal hintereinander. Das ist doch kein Zufall.«
Milo deutete auf eine Reihe feiner Linien, die wie zwei nebeneinander schwimmende Fische aussahen, und eine auf dem Bauch liegende Acht.
»Sieht aus wie zwei Hasen, die sich um eine umgefallene Sanduhr streiten«, gab Bonne zögerlich zu.
»Es ist doch egal, wie es aussieht«, fuhr Milo seinen Bruder an. »Viel wichtiger ist doch, was die Runen bedeuten. Gab es noch mehr von diesen Zeichen dort unten?«
Bonne zuckte mit den Schultern. »Ich habe Pilze gesucht, keine Strichmännchen«, rechtfertigte er sich. »Was interessiert dich so an dem Gekritzel irgendeines Magiers?«
»Das kann ich dir erzählen«, sagte Milo, während er das Schieferstück in seinem Leinenbeutel verstaute. »Wenn ein Magier sich die Mühe macht, solche Runen in Stein zu kratzen, geht es um etwas Wichtiges. Vielleicht beschützen die Runen irgendetwas, einen Schatz oder einen mächtigen magischen Gegenstand.«
Milo zog das lose Ende des Seils zu sich heran und begann, es sich um den Bauch zu schlingen.
»Diesmal werde ich hinunterklettern, und du sicherst mich«, sagte er zu seinem Bruder, der bereits in dem Rucksack kramte, den er am Fuße der Trauerlinde zurückgelassen hatte.
»Falsch«, erwiderte Bonne und präsentierte ein säuberlich zusammengelegtes Bündel. »Wir werden zusammen gehen.«
»Du hast ein langes Seil?«, stöhnte Milo fassungslos. »Warum haben wir das nicht gleich genommen, als du den Pilz holen wolltest? Wir hätten es einfach um den Baum wickeln können.«
Bonne stemmte empört die Arme in die Hüften. »Wem würdest du dein Leben anvertrauen, irgendeinem dahergelaufenen Baum oder deinem eigenen Bruder?«
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