Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
am Himmel und wärmte unsere Körper. Viel Zeit zum Auskühlen blieb uns noch nicht.«
Bocco Talis schien mit der Antwort zufrieden. Sanft tätschelte sie die Hände der beiden Brüder.
»Es ist furchtbar mitanzusehen, was Menschen selbst Kindern antun. Die Welt dort oben ist unnachgiebig und brutal. Wessen hat man euch fälschlicherweise bezichtigt?«
Milo konnte spüren, wie die Hexe einer traurigen Geschichte entgegenfieberte, um sich an jedem seiner Worte zu laben.
»Wir waren zusammen mit Rosi Butterblums, der Tochter des Bürgermeisters, in deren Kuhstall«, begann Milo. »Wir haben oben im Heuboden herumgealbert und Späße gemacht. Rosi muss mit dem Fuß in dem Seil für die Lastwinde hängen geblieben sein. Sie stolperte und stürzte kopfüber hinunter, genau in die Aufnahme für die Eggen, Sensen und Forken.«
Milo hatte mit einer bestürzten Geste oder wenigstens einem Ausdruck des Bedauerns der Alten gerechnet, doch stattdessen kicherte sie hämisch. »Haben euch die Leute nicht gefragt, was vorgefallen ist?« Die Sache wäre doch so einfach aufzuklären gewesen. Immerhin war es nichts anderes als ein grässlicher Unfall.«
Milo räusperte sich.
»Wir sind weggerannt«, mischte sich Bonne schnell ein. »Wir hatten Angst, dass uns niemand glauben würde.«
»So wie es scheint, lagt ihr mit eurer Vermutung auch nicht ganz falsch«, zischte Bocco Talis.
»Ganz falsch! Ganz falsch«, wiederholte die Krähe und sprang von der Schulter auf den Tisch. Die Landung des Vogels war ein mittelgroßes Debakel. Er hüpfte unbeholfen auf einem Bein über den Tisch, bis er das Gleichgewicht verlor, eine Art Pirouette drehte und auf dem Rücken landete. Krächzend und mit flatternden Flügeln versuchte er, sich wieder aufzurichten, doch das lückenhafte Gefieder verlieh ihm nicht genug Schwung. Die Krähe geriet immer mehr in Panik und kreiste wie eine angeschlagene Hummel über den Tisch.
»Falsch, falsch, falsch«, wiederholte sie dabei unablässig.
Bocco Talis beobachtete das Schauspiel, ohne dem Vogel auch nur im Geringsten zu helfen.
Milo konnte es nicht länger ertragen, das Tier so leiden zu sehen. Beherzt packte er zu und stellte die Krähe auf ihr verbliebenes Bein. Etwas zu beherzt, wie es aussah, denn sein Daumen drückte durch das Gefieder und verschwand in der Brust des Vogels wie in einem morschen Bienenstock, was dem Tier aber nichts auszumachen schien. Fröhlich krächzend stand er da mit wackelndem Kopf und dem Loch in der Brust, aus dem zwei dünne Knochen hervorragten.
Milo kommentierte den Vorfall nicht. Er schaute zu Bocco Talis in der Hoffnung, sie würde das Gespräch wieder aufnehmen und ihn nicht ähnlich hilflos wie den Vogel stammelnd am Tisch sitzen lassen.
Sie zeigte ein Einsehen. »So ist es immer«, sagte sie. »Eine aufgebrachte Meute sucht nicht nach der Wahrheit. Sie sucht nur jemanden, den sie zur Verantwortung ziehen kann. Meist trifft es die Unschuldigen und Hilflosen, die Schwachen und Einsamen.«
»Das ist genau mein Reden«, entfuhr es Bonne. »Immer auf die Kleinen.«
Milo nahm es seinem Bruder nicht übel. Natürlich wollte Bonne sich auch einbringen, doch er wusste eben nicht, worauf Milo hinauswollte.
»Immer auf die Kleinen«, wiederholte Milo. »Das stimmt! Doch einsam, schwach, hilflos und unschuldig trifft es nicht ganz.«
Bocco Talis stutzte einen Moment, fand jedoch schnell wieder zu sich.
»So habe ich das nicht gemeint«, erklärte sie übertrieben einfühlsam. »Ihr seid natürlich nicht schwach und hilflos, nur bezogen auf die Meute, die hinter euch her war. Ich wollte euch nicht kränken, entschuldigt bitte.«
»Eigentlich war mein Einwand mehr auf das ›unschuldig‹ bezogen«, sagte Milo. »Denn das sind wir auf keinen Fall.«
Erneut stutzte Bocco Talis, lenkte aber auch diesmal sofort wieder ein. »Oh, meine Lieben, ihr dürft euch so etwas nicht einreden. Es war ein Unfall, ein Zufall oder Schicksal, wenn ihr wollt. Ihr könnt wirklich nichts dafür. Die Einzigen, denen Unrecht angetan wurde, seid ihr.«
Milo setzte die finsterste Miene auf, zu der ein Halbling fähig war.
»Zufall und Schicksal sind etwas für alte Frauen, die sich im Winter ihres Lebens darüber hinwegtrösten wollen, dass ihr Leben so trist und bedeutungslos verlaufen ist«, knurrte er. »Wir haben unser Leben selbst bestimmt und werden sicher nicht darüber jammern, Opfer gewesen zu sein.«
Ganz so schnell wollte Bocco Talis aber nicht aufgeben, so schien es. Immerhin
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