Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
und bei jeder Bewegung ein dunkles Pochen sowie ein schleifendes Geräusch hinterließ. Die schemenhaften und vagen Umrisse, die Milo von der Alten erkannte, erinnerten ihn an ein verletztes Tier, das am Boden lag und das sich allein mit der Kraft seiner Vorderläufe vorwärtsschleppte.
»Kinder, wie wunderbar«, hallte die Frauenstimme durch die Schankstube. »Niemand leidet mehr als unschuldige Kinder. Mit Ausnahme von alternden Geschichtenerzählern«, fügte sie hinzu.
Milo sah zu seinem Bruder hinüber. Er konnte erkennen, wie es Bonne auf der Seele brannte, der Alten zu widersprechen. Ein angedeutetes Kopfschütteln und ein kurzer Tritt gegen das Schienbein ließen Bonnes Drang jäh verebben.
Im nächsten Moment waren Hagrim und die Gestalt am Boden schon bei ihnen. Jemand zog den freien Stuhl, auf dem der Geschichtenerzähler kurz zuvor gesessen hatte, zurück. Hagrim bückte sich kurz, richtete sich aber im selben Moment wieder auf.
»Sehe ich aus, als hätte ich deine Hilfe nötig?«, keifte ihn die alte Frau an. »Scher dich an einen der anderen Tische, und klimpere ein bisschen auf deiner Harfe. Sorge dafür, dass sie ihre Kelche füllen.«
Milo konnte seine Neugier nicht mehr unterdrücken. Sein Blick glitt Zoll für Zoll über die Maserung der Holzplatte bis hin zur Tischkante. Der Stuhl dahinter war immer noch unbesetzt, doch eine knöchrig aussehende Hand, die vom Gelenk an bandagiert war, klammerte sich von unten in die gedrechselten Stäbe der Rückenlehne. Kurz darauf schwang sich die zweite Hand, zwei kurze Krücken umklammernd, über die Sitzfläche. Unter Ächzen und Stöhnen hievte sich der Rest des Körpers auf den Stuhl und versuchte mit letzter Kraft, eine geeignete Position zu finden.
Hagrim war bereits im hinteren Teil der Schenke verschwunden und stimmte sein Instrument an.
Milos Neugier war kaum zu bremsen, doch er wusste, wenn er seinen Blick jetzt nicht losriss, würde er sich verraten. Bedächtig drehte er den Kopf zurück und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Tisch vor sich.
Leises Harfenspiel setzte ein, und als ob es dazugehörte, verfiel die Alte am Tisch in Wimmern. Milo spürte ihren Blick auf sich.
»Ihr armen Kleinen, was hat man euch angetan? Eure Körper geschunden, eure Seelen gebrochen und eure Zukunft zerstört. So viel Leid, so viel Ungerechtigkeit musstet ihr erfahren. Löst euch von eurem Schmerz, und teilt ihn mit mir.«
Milo saß wie gebannt am Tisch. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken und ließ ihn frösteln.
»Was ist, seid ihr taub?«, krächzte die Alte.
Die Halblinge hoben erschrocken die Köpfe und starrten Bocco Talis an. Sie war in schwarzen Stoff gehüllt, die Arme bandagiert, und ein dunkler Schleier verbarg ihr Gesicht. Dennoch konnte man sehen, dass sie mehr als nur mager war. Die wenige sichtbare Haut war durch Brandmale verunstaltet, und das nur schemenhaft erkennbare Gesicht schien mehr eine Totenmaske denn ein wirkliches Antlitz zu sein. Auf ihrer Schulter hockte eine Krähe, die nur wenig besser aussah als die Hühner im Stall. Dem Vogel fehlte ein Bein, die Augen waren blind und das Gefieder zur Hälfte gerupft. Es war schwer zu sagen, wer im Verfallsstadium vorne lag, Frau oder Vogel. Milo gab dem Vogel die Führung, aber nur, weil er sich nicht vorstellen wollte, wie Bocco Talis ohne den Schleier aussah.
»Sie haben uns mit Hunden gejagt, und als sie uns fingen, schlugen sie mit Knüppeln auf mich und meinen Bruder ein. Dann schleiften sie uns hinter ihren Pferden her und lynchten uns an der Seufzerschlucht«, erklärte Milo, ohne sonderlich traurig oder aufgebracht zu wirken. Ein Bericht über die Stallarbeit daheim hätte nicht emotionsloser ausfallen können.
Bocco Talis langte unvermittelt über den Tisch und ergriff die Hände der Halblinge.
»Ihr armen Kleinen, ihr habt ja so viel durchmachen müssen«, sagte sie, sah dann aber brüskiert auf. »Ihr seid ganz warm«, stellte sie erschrocken fest.
Bonne und Milo kannten sich schon zu lange, um nicht die Vorzüge und Stärken des anderen zu kennen. Wenn es um riskante Mutproben ging, konnte niemand Bonne das Wasser reichen, doch für Ausreden und Notlügen gab es keinen besseren als seinen älteren Bruder.
»Die Leute in Eichenblattstadt sind keine großen Knotengenies«, sagte Milo. »Wir haben eine ganze Zeit gebaumelt, bevor es zu Ende war.« Er zog den Kragen zurück und zeigte seinen roten Hals. »Als es dann endlich vorüber war, stand die Sonne hoch
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