Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
so etwas angetan wird? Keine, für die sich ein Gott zu interessieren scheint, jedenfalls«, stellte er im gleichen Atemzug fest.
Der Spielmann schlurfte von dannen, ohne sich weiter um die beiden Halblinge zu kümmern.
»Ich hätte lieber ein Glas Bier«, krächzte Bonne plötzlich. »Von Rotwein bekomme ich immer Sodbrennen.«
Milo wäre seinem Bruder am liebsten an den Hals gesprungen, doch der entsetzte Blick des Sängers ließ ihn innehalten.
»Ihr seid nicht tot«, stammelte er verwirrt.
»Zum einen nicht das und zum anderen auch keine Kinder«, erwiderte Bonne dreist. »Zwei Umstände, die ich eigentlich sehr begrüße. Trotzdem wäre mir ein Bier lieber, wenn Ihr Euch dazu durchringen könntet, lebende Halblinge zu bewirten.«
Der Spielmann hastete zum Tisch der Brüder zurück, packte die Lehne des Stuhles vor sich, als befürchte er, die Beine würden ihm den Dienst versagen, und sah seinen zwei neuen Gästen abwechselnd ins Gesicht.
»Wie seid ihr hier hereingekommen?«, keuchte der Sänger.
»Seufzerschlucht, Höhle, Stollen, Tür«, gab Bonne in knappen Worten wider und zeigte auf den Eingang der Schenke.
Der Spielmann zog den Stuhl zurück und ließ sich darauf fallen.
»Halblinge, sagt ihr?«, schnaufte er. »Sind die so etwas wie Zwerge?«
Bonne rollte mit den Augen.
»In diesem Fall würde ich doch die Bezeichnung Kinder bevorzugen«, sagte er. »Ihr scheint nicht viel herumzukommen, Herr Wirt.«
»Mein Name ist Hagrim, und ich bin nicht der Wirt«, gestand der Spielmann. »Die Schenke gehört Bocco Talis. Sie war eine Hexe, bis man sie mitsamt all ihrem Hab und Gut lebendig in ihrer Schenke verbrannte. Seit diesem Tag reist sie durch Raum und Zeit auf der Suche nach geschundenen Seelen, die schuldlos gerichtet wurden, und nährt sich von ihrer Trauer und der Ungerechtigkeit, die ihnen widerfahren ist. Sie trinkt ihre Tränen, die ich in den Gläsern auffange wie ein Lebenselixier.«
Bonne sprang von seinem Stuhl auf, änderte dadurch aber nur wenig an dem Blickwinkel zu seinem Gesprächspartner und stemmte die Arme aufgebracht in die Hüften.
»Ich habe schon viele haarsträubende Geschichten gehört, um irgendwelche Leichtgläubigen in drittklassige Kneipen zu locken und ihnen dort das Gold aus der Tasche zu ziehen, doch das hier schlägt dem Fass wirklich den Boden aus. Wenn es stimmt, was Ihr erzählt, würde das bedeuten, wir befinden uns in einer Geisterkneipe.«
Bonne schob seinen Stuhl beiseite und machte einen Schritt auf den Spielmann zu. »Eure kleine Geschichte hat nur einen kleinen Haken«, gab er mit der Selbstsicherheit eines Schulmeisters zu bedenken. »Nehmen wir an, es stimmt, was Ihr behauptet …« Bonne eilte zu einem der Nachbartische und setzte sich zu einem allein sitzenden Mann, der den Kopf tief über einen Weinkelch gebeugt hielt und wirkte, als würde er gleich einschlafen. »… dann würde das bedeuten, dass alle in dieser Schenke bereits lange tot sind.«
Bonne legte die Hand auf die des Gastes und betätschelte sie freundschaftlich. »Na mein Alterchen, wie fühlt man sich denn so als wandelnder Leichnam?« Er legte dem Fremden die andere Hand auf die Schulter. Der Mann wandte Bonne den Kopf zu.
»Ich muss sagen«, begann Bonne frohgemut, »für einen Toten«, dann schluckte er, »seht ihr gar nicht so …«
Bonne verstummte und wurde bleich, als er unter die Kapuze des Fremden blickte. Erschrocken ließ er von seinem Gegenüber ab, sprang vom Stuhl auf und eilte mit steifen Beinen zurück an den Tisch seines Bruders.
»Was ist mit dir?«, erkundigte sich Milo.
»Für einen Toten sieht er wirklich nicht gut aus«, stammelte Bonne.
»Was redest du da«, fauchte ihn Milo an. »Es ist nicht die Zeit für Späße.«
»Spaß?«, keuchte Bonne, während er sich hinsetzte. »Sein Gesicht ist grau wie Stein, die Wangen tief eingefallen, die Haut brüchig und die Augen nichts weiter als zwei dunkle Höhlen. Entweder ist er tot oder verdammt tot. Wenn du mir nicht glaubst, überzeug dich doch selbst.«
Hagrim ergriff je eine Hand der beiden und drückte sie so fest auf die Tischplatte, dass es beinahe wehtat. Dann schaute er in ihre erschrockenen Gesichter. »Wenn ihr erst einmal jahrelang in dieser Schenke hockt und euer Kummer jeden Tag wieder aufs Neue genährt wird, würdet ihr auch nicht anders aussehen.«
Milo riss sich los. »Wir hatten nicht vor, so lange zu bleiben«, sagte er störrisch. »Wir wollen nur wieder weg von diesem verfluchten Ort
Weitere Kostenlose Bücher