Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
und hatten gehofft, hier einen Ausgang zu finden.«
»Niemand verlässt die Schenke, solange Bocco Talis ihn nicht gehen lässt«, zischte der Spielmann. »Und die, die diesen Ort verlassen haben, waren nicht mehr, als eine verwesende Hülle, die selbst das Unterreich wieder ausspucken würde. Hier trauern selbst die Toten so lange, bis ihre Seele stirbt.«
Jetzt befreite sich auch Bonne aus der Umklammerung.
»Tja, so viel Zeit haben wir leider nicht«, sagte er. »Halblingsseelen eignen sich nicht sonderlich gut zum Trauern. Es war schön, Euch kennengelernt zu haben, Gruß an die Wirtin, aber ich glaube, wir müssen jetzt.«
Die Brüder sprangen von ihren Stühlen und wandten sich der Tür zu, oder besser gesagt dem Teil der Wand, wo eben noch die Tür gewesen war. Verwundert sahen sie auf die triste Holzwand. Der Ausgang schien verschwunden. Mit fast beleidigten Gesichtern setzten sie sich wieder an den Tisch.
»Ihr scheint genauso lebendig wie wir«, sagte Milo. »Wie seid Ihr hierhergekommen und, was noch wichtiger ist, wie kommt Ihr wieder hinaus?«
Hagrim lächelte freudlos.
»Diese Schenke hat schon zu viele traurige Geschichten gehört«, erklärte er. »Sagen wir einfach, ich habe meine Dienste Bocco Talis angeboten, um ein junges Mädchen vor ihrem Fluch zu retten. Mein Talent als Geschichtenerzähler garantiert ihr, dass sie auf den vielen Welten nicht in Vergessenheit gerät.«
»Ihr scheint nicht sonderlich erfolgreich gewesen zu sein«, mischte sich Bonne ein. »Ich habe bis heute noch nie etwas von dieser Bocco Talis gehört. Und Ihr könnt mir glauben, dass ich jede Schenke in fünfzig Meilen um den Düsterkrallenwald herum kenne.«
»Es gibt viele Welten und noch mehr taube Ohren«, konterte Hagrim. »Die Schenke ist immer dort, wo Unschuldige sterben. Bocco Talis nimmt sich ihrer an und nährt sich von ihren Leiden, bis ihre Seelen genau so verdorrt sind wie ihre Körper. Von Zeit zu Zeit schickt sie mich mit Hilfe ihrer Zauberkünste in die wirkliche Welt zurück, damit ich in Schenken und Gasthäusern die Erinnerung an sie aufrechterhalte. Ihre Geschichte ist um keinen Deut weniger traurig als die eines jeden anderen in dieser Schenke.«
Ein dumpfes Pochen ließ Hagrim abrupt verstummen. Mit düsterer Miene wandte er den Kopf über die Schulter und sah zum Tresen hinüber. Erneut durchschnitt ein Pochen die Luft. Das Geräusch schien seinen Ursprung irgendwo hinter dem Schanktisch zu haben. Rasch blickte Hagrim wieder die beiden Halblinge an.
»Sie hat euch gewittert«, flüsterte er. »Wenn sie herausfindet, dass ihr noch nicht tot seid, wird sie alles daransetzen, diesen kleinen Makel aus der Welt zu schaffen. Sprecht nur, wenn sie euch etwas fragt. Starrt sie nicht an, denn das hasst sie, und Hände weg von ihrem Vogel. Aber am Allerwichtigsten ist – seht verdammt noch mal tot aus, und hört auf, ständig so dämlich zu grinsen.«
Hagrim schlurfte in Richtung Ausschank und verschwand kurz darauf hinter dem Tresen. Milo konnte nicht sehen, was er genau tat, aber es hörte sich an wie das Öffnen einer Kellerluke. Bonne hatte unterdessen die Blutmorchel aus der Tasche genommen und sie in zwei gleich große Stücke geteilt. Er drückte etwas von dem dunkelroten Pilzsaft heraus und benetzte seine Mundwinkel damit. Dann reichte er Milo die andere Hälfte.
»Es soll doch echt aussehen«, zischte er.
Milo nahm das Stück hastig, schmierte sich einen roten Ring einmal um den Hals und träufelte sich einige Tropfen ins Nasenloch. Dann ließ er die Morchel eilig in der Tasche verschwinden.
»Was ist los mit dir, Geschichtenerzähler?«, krächzte eine Frauenstimme hinter dem Ausschank. »Hattest du Wichtigeres zu tun, als mir aufzusperren, oder kriecht dir auch schon langsam der Tod in die Knochen?«
»Verzeiht mir«, entschuldigte sich Hagrim, der wieder hinter dem Tresen auftauchte, »ich habe mich nur um unsere zwei neuen Gäste gekümmert.«
»Gleich zwei gequälte Seelen, die Götter meinen es gut mit mir«, röchelte die Frau entzückt.
»Götter quälen! Götter quälen!«, krächzte eine andere Stimme.
»Ein schöner Gedanke, mein Liebling«, kicherte die Frau, »doch alles zu seiner Zeit. Erst einmal wollen wir uns um die irdischen Leiden kümmern.«
Milo konnte den Blick nicht von der Tischplatte vor sich lösen, nur aus den Augenwinkeln sah er die Geschehnisse am Tresen. Hagrim kam zurück an ihren Tisch. Er schlenderte hinter etwas her, das am Boden zu kriechen schien
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