Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Hinterläufe und schlichen wimmernd um den Stamm der Eiche herum, ohne jedoch ihre Beute aus den Augen zu lassen.
»Was war das?«, fragte Bonne.
»Ich würde sagen, auf ein riesiges Huhn zu hoffen könnte man als töricht bezeichnen.«
Das Geräusch dröhnender Schritte hallte durch die Stollen des Gewölbes. Zuerst waren sie langsam und in regelmäßigen Abständen zu vernehmen, doch dann wurden sie schneller und vermischten sich schließlich zu einem einzigen Grollen, das immer näher kam.
»Ich wette mit dir, dass, egal was durch diesen Stollen kommt, an der Seite immer noch genug Platz für einen Halbling ist, der rechtzeitig zum Abendbrot zu Hause sein will«, rief Milo seinem Bruder zu.
»Da halte ich gegen und erhöhe um einen weiteren Halbling«, erwiderte Bonne.
Was es auch war, das auf sie zustürmte, es kam schnell näher, und es würde in wenigen Augenblicken aus dem dunklen Stollen hervorbrechen und alles zermalmen, was sich ihm in den Weg stellte. Auch die Hunde schienen dies zu spüren und kauerten tief geduckt, aber weiterhin lauernd am Boden im Schutz des Eichenstammes.
»Jetzt!«, brüllte Milo und schwang sich vom Baum.
Bonne tat es ihm einen Herzschlag später gleich. Die Hunde schienen zu verängstigt, um ihrer Beute nachzustellen, und schnappten halbherzig nach den Füßen der Brüder, jedoch ohne Erfolg. Milo stürmte voran auf den Stollen zu, dicht gefolgt von Bonne. Der Lichtschein am anderen Ende des Ganges verdunkelte sich, und das dumpfe Grollen raste auf die Halblinge zu wie eine düstere Lawine.
Die Brüder zögerten einen Moment, doch ein Blick zurück verriet ihnen, dass die Hunde den zweien einen Rückzug auf den rettenden Baum nicht gewähren würden.
»Du links, ich rechts«, schrie Milo. »Wer zuerst am Seil ist.«
Milo war mehr als nur unwohl zumute. Was sie wenige Stunden zuvor noch als Dummheit abgetan hatten, war jetzt ihr bester Plan. Einziger Unterschied dazu war, dass sie nun auch noch von Hunden gehetzt und von einer stampfenden Bestie zermalmt werden sollten. Alles in allem hatte sich ihre Lage also nicht verbessert.
Die Dunkelheit hatte die beiden fast verschluckt. Es war nicht mehr als ein fahler Schein übrig, aber dieser reichte, um den massigen Schädel eines Bullen sichtbar werden zu lassen, der wutschnaubend auf die Brüder zuraste. Ein flüchtiger Blick bestätigte Milo, dass das Tier das gleiche Schicksal ereilt hatte wie seine Stallgenossen. Der Nasenring war herausgerissen, eine Schädelhälfte verbrannt und das Fell lückenhaft.
Milo presste sich an die Stollenwand, das Gesicht fest gegen die kalte Ascheschicht gedrückt. Dann war der Bulle heran. Stumpfes Fell und ledrige Haut rissen an seiner Kleidung, doch Milo blieb auf den Beinen, und bevor er anfangen konnte zu schreien, war der Spuk vorüber.
Das Geräusch der dröhnenden Hufe entfernte sich schnell, und einen Augenblick später brach der Bulle in die Kammer mit den Hunden. Eines der Tiere jaulte auf, und man hörte einen dumpfen Aufprall. Inzwischen fiel auch wieder Licht in den Stollen. Milos erster Gedanke galt seinem Bruder. Bonne hockte zusammengekauert am Boden, die Hände schützend auf den Kopf gelegt. Er schien unverletzt.
»Hast du nicht gehört?«, brüllte Milo seinen Bruder an. »Wer zuerst am Seil ist. Willst du etwa, dass ich gewinne?«
Bonne schreckte hoch wie aus einem Albtraum. Verstört, aber energisch schüttelte er den Kopf. Dann begann er zu rennen. Milo heftete sich an seine Fersen. Gemeinsam hetzten sie durch die Stollen Richtung Seufzerschlucht. Hinter ihnen schwoll das Geräusch der stampfenden Hufe erneut an, und hinzu gesellte sich das heisere Bellen eines Hundes.
Milo konnte die frische Luft des Waldes schon riechen. Das Licht der Laterne am Eingang schimmerte bereits hinter der nächsten Stollenbiegung – da stürzte er. Einen kurzen Moment blieb er liegen. Er war erschöpft, und sein Knöchel schmerzte. Gerade, als er sich aufrichten wollte, sprang ein dunkler Schatten über ihn hinweg. Es war einer der Hunde, der ihn entweder nicht gesehen hatte oder an ihm nicht interessiert war, da seine Beute weiter vorne lief.
»Bonne, pass auf, eins der Hundeviecher ist hinter dir her«, schrie er, so laut er konnte. Dann war er auch schon wieder auf den Füßen und rannte weiter. Hinter ihm donnerten die Hufe des Bullen im Kies. Jeden Moment musste die Bestie ihn eingeholt haben. Fast glaubte er den fauligen Atem des Tieres in seinem Nacken zu spüren, da sah er
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