Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
Wurzelgeflecht zur Seite, um die Freiheit wenigstens riechen zu können.
»Erster!«, rief ihm jemand von der anderen Seite zu.
Bonne hing zusammengekauert am Seil, das kurz unter seinen Füßen ausgefranst endete. In der Hand hielt er ein Messer.
»Ich war nur kurz mit dem Hund draußen, aber er hat sich losgerissen.«
Milo konnte nichts erwidern. Tränen rannen ihm übers Gesicht – Tränen der Freude.
»Hör auf herumzuflennen, großer Bruder!«, rief Bonne. »Die Töle ist es nicht wert. Ich werde jetzt nach oben klettern und dir ein Seil herunterlassen. Wenn wir uns beeilen, sind wir doch noch zum Abendbrot rechtzeitig zu Hause. Vielleicht kaufe ich dir ja morgen ein Haustier, das zu dir passt. Wie wäre es mit einer Weinbergschnecke?«
BEIM BARTE DER AHNEN
von Aileen P. Roberts
»Beim Barte der Ahnen, Dimdur, du bist eine herbe Enttäuschung!«
Mit eingezogenen Schultern stand der junge Dimdur vor seinem Vater. Buschiges graubraunes Haar und ein prächtiger Bart, der ihm bis auf den Bauch hing, umwallten das Gesicht des berühmten Zwergenkriegers. Fengaars dunkle Augen hatten sich zusammengezogen, als er über Dimdurs noch immer glattes Kinn strich. »Es bedarf wohl eines Wunders, wenn dir in sechs Tagen noch eine anständige Gesichtsbehaarung wachsen soll!« Kopfschüttelnd wandte sich Fengaar ab, wobei seine nietenbesetzte Lederrüstung knarrte. Mit donnernden Schritten begab er sich zum Kampfplatz außerhalb der Höhlen, wo er die jungen Zwerge in der Kriegskunst unterrichtete.
Dimdur ließ den Kopf hängen. Er wusste selbst, dass es für einen Zwerg eine Schande war, in seinem Alter noch immer keinen Bart zu tragen. In sechs Tagen war sein fünfzigster Geburtstag, zu dem jede Menge einflussreiche Krieger aus den umliegenden Zwergenclans eingeladen sein würden – und Dimdur musste seinen Vater wohl erneut blamieren.
Wahrscheinlich hat Vater es schon längst bereut, mich damals bei sich aufgenommen zu haben , dachte Dimdur betrübt. Ihm war schon lange bekannt, dass er ein Findelkind und seinem älteren Bruder Randur in jeglicher Hinsicht unterlegen war. Randur, ein furchtloser Krieger, unangefochtener Meister mit Kriegshammer und Axt, hatte bereits mit knapp dreißig Wintern einen Bart gehabt, um den ihn jeder junge Zwerg beneidete. Langsam schlurfte Dimdur aus der Höhle und beobachtete flüchtig die jungen Krieger – allesamt bessere Kämpfer als er. Dimdur selbst wusste sich zwar zu verteidigen, wenn es sein musste, aber Gefallen an der Kriegskunst fand er nicht. Lieber streifte er durch die umliegenden Berge, legte sich auf moosbewachsene Lichtungen und beobachtete, wie die Wolken dahinzogen. Auch heute wollte er sich wieder davonschleichen, als ihn die keifende Stimme seiner Großtante Frengata aufhielt: »Nimm deine Schuhe mit, du Schurke, sonst trittst du dir nur Dornen in die Füße, und wer muss sie dir dann wieder herausziehen? Ich!« Auf krummen Beinen kam die kräftige Zwergin mit dem schlohweißen Haar und dem dünnen Bart im Gesicht auf ihn zugeeilt, wobei sie ihm seine abgewetzten Lederstiefel hinhielt.
Wohl wissend, dass bei Frengata jedweder Protest sinnlos war, nahm er die Schuhe mit einem halbherzigen Lächeln entgegen und zwängte seine Füße hinein. Dimdur konnte Schuhwerk nicht ausstehen, er mochte das Gefühl, wenn Gras seine Zehen kitzelte oder er feuchte Erde spürte. Doch im Augenblick musste er sich fügen und eilte unter dem prüfenden Blick seiner Großtante davon.
Die Zwergensiedlung lag in einem Talkessel. Mehrere Höhlen umgaben den Kampfplatz, und nur über einen schmalen Pfad gelangte man weiter in die Berge hinein. Dimdur kannte noch einen Schleichweg den Geröllabhang hinauf, welchen er auch heute benutzte, damit er nicht am Ende zum Schmieden, Kämpfen oder Bierbrauen abkommandiert wurde. Geschickt kraxelte er den Hang empor, ein Blick in die Tiefe ließ ihn allerdings grinsend verharren. Der alte Bronk – er hatte schon weit über vierhundert Sommer gesehen – hüpfte vor seiner Höhle herum, wobei er unablässig seine schwarz verschmierte Hand ausschüttelte.
»Verdammtes klebriges Dreckszeug!«, brüllte er so laut, dass es bis zu Dimdur hinaufschallte. »Damit kann man ja wohl alles zusammenkleben.« Bronk war dafür bekannt, immer neue Erfindungen zu machen – nur meist waren sie leider wenig nützlich.
Als Dimdur auf der Hochebene oberhalb seines Heimattales angekommen war, atmete er befreit auf. Laub- und Nadelbäume standen hier dicht an
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