Große Geschichten vom kleinen Volk - Band 1 (German Edition)
vor sich die Wegkreuzung mit der Laterne.
Die Schmerzen in seinem Fuß wurden unerträglich, aber Milo schleppte sich weiter. Er bog in den Gang ab, der zur Seufzerschlucht führte. Er sah Bonne, wie er vor dem Wurzelgeflecht stand, und versuchte, sich einen Weg nach draußen zu bahnen. Der Hund war nur noch wenige Meter hinter ihm.
»Der Hund!«, schrie Milo erneut.
Bonne drehte sich zu seinem Bruder um. In diesem Moment setzte der Vierbeiner zum Sprung an. Bonne riss die Arme in die Höhe. Die Bestie stürzte sich auf ihn. Gemeinsam fielen Halbling und Hund durch die Wand aus Wurzeln und verschwanden.
»Bonne!«
Milo humpelte wie betäubt weiter. Sein Herz raste, Tränen rannen ihm über das Gesicht. Sein Fuß war nur noch ein tauber Klumpen am Ende des Beines, sein Herz ein pochender Muskel, der zu zerspringen drohte. Völlig erschöpft gelangte er in die Höhle, wo die Freiheit zum Greifen nahe schien und dennoch so gut wie unerreichbar war. Milo sank auf die Knie, doch das Brüllen des Bullen ließ ihn herumfahren. Der Koloss stand auf der Kreuzung vor der Höhle, das Haupt tief gesenkt, der Huf scharrte am Boden. Die mächtigen Hinterläufe hatten die kleine Laterne unter sich zertrampelt und das Feuer in ihr entfesselt. Flammen krochen am Fell des Tieres empor. Ein letztes Mal schnaubte der Bulle, dann stürmte er auf den Halbling los.
Milo kroch über den Boden, in der Hoffnung, den Rand zur Seufzerschlucht erreicht zu haben, bevor ihn das Tier zertrampeln konnte. Lieber würde er sich selbst in den Tod stürzen, als sich von einem untoten Huftier in die Hölle bringen zu lassen.
Milo stieß gegen einen am Boden liegenden Stein. Fast hätte er ihn einfach zur Seite gestoßen, bis er die magischen Runen erkannte. Es war die Schieferplatte mit den magischen Runen, auf der sich die Blutmorchel festgesetzt und die er beim Sturz in die Höhle fallen gelassen hatte. Ein Funken Hoffnung keimte in ihm auf. Wenn das Herausbrechen des Steines dieses magische Labyrinth geöffnet hatte, konnte er es vielleicht auch wieder verschließen. Die Schieferplatte umklammernd, stieß Milo die Hand durch das Wurzelgeflecht auf der Suche nach der Lücke im Gestein. Er wandte den Blick zurück und sah das brennende Untier auf sich zustürmen. Milos Hand tastete weiter und fand die Stelle. Der Stein fügte sich wie von selbst zwischen die anderen ein.
Langsam schwang die dünne Gartenpforte zu Bocco Talis’ Reich zu. Durch die Spalten im Holz sah Milo den brennenden Bullen unbeeindruckt weiterrennen. Wutschnaubend warf er den mächtigen Kopf hin und her und riss dabei mit seinen Hörnern tiefe Furchen in die Wände des Stollens. Kurz bevor die Bestie das Tor erreichte, schnappte das Schloss zu. Milo hielt die Luft an, zog die Beine zu sich heran und umklammerte sie. Der Bulle donnerte mit seinem ganzen Gewicht gegen die dünnen Bretter der Pforte. Es hörte sich an, wie der berstende Rumpf eines Schiffes, der auf ein Riff auflief. Die Höhle erbebte. Staub und Asche rieselten von der Decke und den Wänden. Für einen Moment kniff Milo die Augen zusammen und wartete auf das anscheinend Unvermeidbare. Dann war der Spuk plötzlich vorüber. Milo traute seinen Augen kaum. Das Tor hatte sich keine Handbreit gerührt. Funken und brennende Haarbüschel stoben durch die Ritzen, aber das Tor selbst bewegte sich nicht. Langsam verschwammen die Umrisse zu Bocco Talis’ Reich. Aus dem Holz des Tores schienen Wurzeln zu wachsen. Sand und Steine setzten sich in die Ritzen der Bretter und ließen den Blick auf das brennende Ungetüm dahinter verblassen. Ein letztes Schnauben der Bestie wirbelte Staub durch einen Spalt. Als er sich gelegt hatte, war von dem Stollen und dem Tor nicht mehr übrig als eine karge Höhlenwand.
Milo hatte es geschafft. Er war dem Fluch der Hexe und ihrem Labyrinth entkommen, doch tief in sich fühlte er nur Traurigkeit und Schmerz. Er hatte es bis hierhin geschafft, aber das war auch alles. Was als Streich und Mutprobe begonnen hatte, hatte in einer Tragödie geendet. Wie sollte er all das seinem Vater erklären? Was würde er ohne seinen Bruder machen? All diese Fragen rückten jedoch in den Hintergrund, denn mit seinem verletzten Bein würde er den Sprung an das Seil niemals schaffen. Ohne fremde Hilfe war sein Ende vorbestimmt. Stand ihm jetzt der Hungertod bevor? Oder würde er zuerst verdursten? Es blieb noch genügend Zeit, es herauszufinden. Jedenfalls war er an der frischen Luft. Milo drückte das
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