Große Kinder
dagegen gelangen unmögliche Paraden, und perfekt vorgelegte Schläge verfehlte er. Wegen seiner Paraden und Glanzleistungen, die die Bewunderung der Gefährten erregten, hielt er sich für den Besten und gab oft an.
(Camus, S. 55)
»Erster«, der Beste sein von allen, das ist es, was Kinder in diesem Alter anstreben. Aus Erwachsenensicht mag das zwar egozentrisch und selbstbezogen erscheinen, Kinder dieser Altersstufe können aber noch nicht einschätzen, wie ihr Verhalten auf andere wirkt. Sie müssen erst einmal einschätzen, wie sie selbst im Vergleich zu anderen sind. So testen sie in ihren ständigen Auseinandersetzungen, in ihren Wettspielen, Kämpfchen und Streitereien mit Schwester oder Bruder, mit Freund und Freundin und mit allen anderen Kindern ihrer Umgebung aus, wo die eigenen Stärken und Schwächen liegen.
Stärken werden bei sich selbst dick herausgestrichen, Schwächen beim anderen: »Ich bin der Stärkste.« »Ich bin schneller als du.« »Ich kann auf die Mauer klettern, du nicht.« »Hau mich ruhig, ich heul trotzdem nicht.« »Angsthase!«»Mädchen sind Heulsusen.« »Jungen sind gemein.« – Wer kennt sie nicht, diese kulturübergreifenden Angebereien und Herausforderungen unter Kindern! Im Grunde legen sie mit ihrem Gehabe und in ihren Spielen aber nur unentwegt Messlatten an, um herauszufinden, wo sie und die anderen stehen, und zwar in allen Lebensbereichen:
Körperliche Veranlagungen
Bin ich eher groß oder klein; stark oder schwach; schnell oder langsam; geschickt oder ungewandt; ertrage ich es, wenn ich mir wehtue, oder bin ich empfindlich; was heißt es, Mädchen zu sein oder Junge?
Geistige Fähigkeiten
Begreife ich schnell oder bleibt mir vieles unverständlich; was kann ich mir leicht merken, was geht mir nicht in den Kopf; muss ich mehr Zeit als andere an den Schulaufgaben sitzen oder geht das nebenbei; kann ich argumentieren oder fällt mir das Reden schwer; wer von uns hat Ideen, wie man aus einer brenzligen Situation rauskommt; wem fallen Dinge ein, die man zusammen tun kann?
Der Umgang miteinander – soziale Kompetenzen
Gerate ich in Wut, wenn es nicht nach meiner Nase geht; bin ich leicht beleidigt; stecke ich eher ein oder teile ich aus; stütze ich andere oder brauche ich Stütze; gleiche ich eher aus oder stacheln mich Auseinandersetzungen an; kommen andere auf mich zu, wenn sie Probleme haben; werde ich meiner Körperkräfte wegen oder aus anderen Gründen geachtet und gebraucht; bin ich »Anführer« oder »Mitläufer«; kann ich Geheimnisse für mich behalten oder brauche ich immer jemanden, mit dem ich sie teilen kann?
Emotionale Aspekte
Kann ich mich für Dinge begeistern oder bin ich eher vorsichtig und zurückhaltend; bin ich jähzornig; was macht mir Spaß, was nicht; bin ich eher ruhig oder eher temperamentvoll; drücke ich mit aller Kraft durch, was ich mir in den Kopf gesetzt habe, oder lasse ich den Dingen ihren Lauf; fühle ich mich auf der Sonnenseite des Lebens oder ewig zu kurz gekommen; kann ich schwärmen, hassen, leidenschaftlich sein, oder bin ich weniger impulsiv; habe ich Angst vor meiner Angst oder fällt es mir leicht, sie zu überwinden?
Alle diese persönlichen Charaktermerkmale müssen wir in diesem Alter erfahren und kennen lernen, manche erwerben, manche ablegen.
Erwachsene helfen da viel weniger, als sie gemeinhin wahrhaben wollen. Notwendig ist dafür der Vergleich mit Gleichaltrigen, und nicht nur der Vergleich im engeren Sinn: Dazu gehört auch die Auseinandersetzung, die Abgrenzung und gegenseitige Ausgrenzung, manchmal auch harte Rückmeldungen. Das sind schmerzliche Prozesse, die aber in dieser Altersstufe, von Kameraden ausgelöst, weiterhelfen und schneller überwunden werden als später. »Schwächling«, »Feigling«, »Petze«, »Heulsuse«, »Mamakind« usw. sind Rückmeldungen, die tief treffen, mit denen sich Kinder untereinander aber auch zu innerem Wachstum anregen können, vor allem, wenn nicht immer sofort Erwachsene zur Stelle sind, die das gekränkte Kind entweder in seiner Kränkung bestätigen oder durch Tröstungsversuche wie »Nimm’s doch nicht so ernst« alles nur noch schlimmer machen.
Kinder lernen in ihren Vergleichen aber auch, dass es nun mal Unterschiede unter Menschen gibt, dass man nicht alles mit dem Willen steuern kann und dass es Gründe dafür gibt,wenn jemand nicht so stark ist wie der andere. Im unbeaufsichtigten Umgang miteinander lernen Kinder in dieser
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