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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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Sommerferien, die sonst vielleicht etwas eintönig gewesen wären.
(Lindgren, S.   115 u. 119)
     
    Für Kinder gibt es heute kaum noch Gelegenheit, dieses Wir-Gefühl der Freundesgruppe, dieses genussvolle Sich-Abgrenzen gegen die anderen »live« zu erleben: Nur jedes vierte deutsche Kind hat zwei oder mehr Geschwister, für Kinderhorden ist kein Platz mehr, und Zeit, sich »einfach so« zu treffen, haben die Kinder sowieso nicht. Außerdem wehren die meisten Eltern entsetzt ab, wenn ein Kind mal auf die Idee kommt, nicht nur
einen
Freund, sondern gleich zwei oder drei mit nach Hause bringen zu wollen.
    In der Schule oder im Sportverein kommen Kinder noch mit Kindern zusammen. Aber Gelegenheit, sich dort ohne Beteiligung von Erwachsenen zu rangeln und zu solidarisieren, gibt es so gut wie nicht. Wir-Erfahrungen in Abgrenzungen zu anderen beschränken sich bei modernen Kindern weitgehend darauf, dass die A-Klasse die B-Klasse blöd findet oder dass sich innerhalb der Klasse kleine Grüppchen bilden. (Mehr dazu später bei den »Zehnjährigen«.)
    Unter Jungen scheint es zwar noch eher als bei Mädchen zu gelingen, sich nachmittags ohne Aufsicht von Erwachsenen zum Fußballspielen zu treffen oder in Kaufhäuser auszuschwärmen. Das Gefühl, eine richtige »Bande« zu sein, die wie Pech und Schwefel zusammenhängt und sich gegen alle Widrigkeitenbehauptet, kann dabei allerdings trotzdem kaum entstehen.
    Das tiefe Bedürfnis, mit anderen Freunden zusammen zu sein, bleibt für die meisten Kinder in den Industrienationen heute also unerfüllt. Jedes Kind verkrümelt sich einzeln, höchstens zu zweit, vor den Fernsehapparat oder an seine Computerspiele. Oder sie graben sich in Bücher ein, in denen Geschichten von Kindern erzählt werden, die noch Abenteuer in der Clique der Gleichaltrigen erlebten.
     
    Glücklicherweise gibt es noch andere Spielarten von Wir-Gefühl. Aus dem Elternhaus heraus eröffnet sich zum Beispiel der Weg zum Gefühl der »Stammeszugehörigkeit«, das in diesem Alter ganz wichtig wird. Dort wo es noch Dorfgemeinschaften gibt, bildet sich ab etwa 8   Jahren ein Bewusstsein dafür, Angehöriger eines Volksstammes oder Mitglied eines bestimmten Dorfes zu sein.
    In der modernen Welt gibt es eine große Vielfalt von »Stammeszugehörigkeiten«, die alle irgendwann im Lauf dieser Entwicklungsphase zum Bewusstsein kommen. Da ist zunächst einmal der Familienclan: Stamme ich aus einer alten Handwerkerfamilie oder aus einem Adelsgeschlecht, besteht die Familie um mich herum aus einem weit verzweigten Netz von Verwandten oder sind wir nur Mutter, Großmutter und ich? Dann gibt es die regionale Volkszugehörigkeit   – ich bin, im Gegensatz zu meiner Cousine, die in Berlin lebt, Schwäbin   –, das nationale Bewusstsein   – ich bin Deutsche, Istafa ist Türke   – und die Religionszugehörigkeit   – meine Eltern sagen, ich bin evangelisch, meine Freundin aber ist katholisch, Max ist gar nichts und Istafa ist Moslem. Auch andere Zugehörigkeitsgefühle entwickeln sich in diesem Alter, zum Beispiel für einen bestimmten Fußballverein: Ich bin Dortmundfan, obwohlmein Freund und sein Vater zu Schalke 04 stehen. In den Ländern, in denen es viele private Schulen gibt, entwickelt sich neben der Klassenidentität (ich bin A-Klässler ) auch ein besonderes Zugehörigkeitsgefühl zur Schule.
    Das Gefühl der »Stammeszugehörigkeit« ist vielleicht für das Sicherheits- und Geborgenheitsgefühl eines Menschen ebenso wichtig wie das Gefühl, zu einer Familie zu gehören und ein Zuhause zu haben.
    Auch beim Gefühl »Stammeszugehörigkeit« gilt, dass es sich nur in Abgrenzung zu anderen, nicht »dazugehörenden« Menschen bilden kann. Katholisch zu sein, ist erst dann ein Merkmal, wenn jemand auftaucht, der nicht katholisch ist. Wenn man in
diesem
Alter das stolze Bewusstsein haben
darf,
Türke zu sein oder Deutscher, Bayern- oder Bremenfan, Montessori- oder Waldorfschüler, und die Erwachsenen um einen herum deutlich vorleben, dass diese Unterschiede zwar zum Leben gehören, trotzdem aber nichts über die Qualität der einzelnen Menschen aussagen, dann wird man die aus der Abgrenzung gewonnene Sicherheit ein Leben lang in sich tragen, gleichzeitig aber spätestens von der nächsten Entwicklungsstufe an sein Herz für »andere« Menschen vorbehaltlos öffnen können.
    Leider wird das natürliche Bedürfnis der Kinder dieses Alters, sich mit einer Gruppe zu identifizieren und so etwas wie

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