Große Kinder
keine festgelegte Zu-Bett-geh-Zeit, sehen fern, wann immer und so viel sie wollen – und sehnen sich im Grunde danach, dass es eine Regel gibt, die ihnen sagt, wann der Fernseher auszuschalten ist und was danach drankommt.
Auch wenn Kinder in ihrer Freizeit am liebsten weit weg von kontrollierenden Erwachsenen gemeinsam mit Freunden die Welt auskundschaften, ist es für sie außerordentlich wichtig, dass jemand zu Hause ist, der einfach »da« ist, wenn man ihn braucht. Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder, die zu Hause allein gelassen sind, weil ihre Eltern arbeiten, auch tatsächlich allein zu Hause sitzen bleiben. Kinder, bei denen wenigstens nachmittags jemand zu Hause ist, haben mehr Kontakte zu Freunden und haben auch mehr Zeit und Freiraum zum Spielen. Kinder sind eben doch noch überfordert, ihr Leben allein auf die Reihe zu bringen.
Die zweite Kategorie von Erwachsenen, die für Kinder eine zentrale Rolle spielen, sind die Lehrer, in und außerhalb derSchule. Sie sollen den Kindern das beibringen, was man »fürs Leben braucht«: Lesen, Schreiben, Rechnen, mit Computern umgehen, Musikinstrument, Sport, Hobby.
Durch die Begegnung mit Lehrerpersönlichkeiten lernen die Kinder allerdings noch viel mehr: Sie bekommen Einblick in die sehr interessante, vielfältige Welt der menschlichen Charaktere. Kinder ab etwa 8 Jahren beobachten und bewerten ihre Lehrer sehr genau. Allerdings zunächst eher mit Intuition als mit Verstand. Lehrer sind einfach »blöd« oder »super«, »geil«, »ätzend« oder »scheiße«. Warum, können die Kinder noch nicht so genau sagen – die dazu notwendige Distanz und Kritikfähigkeit entwickelt sich erst ab etwa 13 Jahren.
Kinder haben einen sechsten Sinn für die Authentizität und Aufrichtigkeit von Erwachsenen. Sie spüren mit schlafwandlerischer Sicherheit die menschliche Kompetenz und Souveränität jedes Lehrers und jeder Lehrerin. Das ist auch meistens der tiefere Grund, ob ein Lehrer geliebt und geachtet oder abgelehnt oder sogar gehasst wird. Kinder möchten wissen, ob sie sich am Lehrer orientieren können, ob sie bei ihm Halt finden. Kinder lieben Lehrer, die ihnen klar und deutlich, aber ohne zu verurteilen zeigen, was sie für »fair« und was für »unfair« halten, was »echt gemein« ist und was man noch hinnehmen kann. Kinder spüren genau, ob sie eine Persönlichkeit vor sich haben, die man als Autorität akzeptieren kann, oder ob sie es mit einem innerlich unsicheren, in sich widersprüchlichen, letztlich schwachen Menschen zu tun haben, über den man sich nur allzu leicht selbst erheben und lachen kann (mehr darüber bei den »Acht-, Neunjährigen«).
Lehrer haben bleibenden Einfluss auf die Entwicklung von Menschen. Das kennt jeder aus eigener Erfahrung und das ist in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen.
Der folgende Lehrer hat zum Beispiel kraft seiner Persönlichkeitdazu beigetragen, dass aus einem schwierigen kleinen Jungen, der heute vermutlich als »hyperaktiv« eingestuft würde, ein bedeutender Schriftsteller geworden ist. Albert Camus schrieb über seinen Grundschullehrer:
In den anderen Klassen lehrte man sie wahrscheinlich vieles, aber ein wenig so, wie man Gänse mästet. Man setzte ihnen fix und fertige Nahrung vor und bat sie, sie gefälligst zu schlucken. In Monsieurs Germains Klasse fühlten sie zum erstenmal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken. Und ihr Lehrer ließ es sich sogar nicht nur angelegen sein, ihnen das beizubringen, wofür er bezahlt wurde, er eröffnete ihnen sogar sein Privatleben, er lebte es mit ihnen, erzählte ihnen seine Kindheit und die Geschichten von Kindern, die er gekannt hatte, legte ihnen seine Ansichten dar und nicht seine Ideen, denn er war zum Beispiel antiklerikal wie viele seiner Kollegen und sagte im Unterricht doch nie ein einziges Wort gegen die Religion oder etwas, was eine Wahl oder Überzeugung betraf, aber er verurteilte um so vehementer, was indiskutabel war, nämlich Diebstahl, Denunziation, Taktlosigkeit, Unanständigkeit.
(Camus, S. 168)
Und dass Strafen von einer so geachteten Person keineswegs als demütigend und verletzend erlebt, sondern als Orientierungshilfe angenommen werden, solange sie nachvollziehbar, konsequent und gerecht sind, wird in der folgenden Passage spürbar. Strafen wurden akzeptiert,
... weil die Unparteilichkeit des Lehrers absolut war, weil man vorher
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