Große Kinder
wußte, welche Übertretungen – immer die gleichen – die Sühnezeremonie nach sich zogen, und all jene, die die Grenze ... überschritten, ... wußten, was sie riskierten und daß der
Urteilsspruch mit herzhafter Gleichheit die Besten wie die Schlechtesten traf.
(Camus, S. 173)
Viele Lehrer haben heute nicht mehr den Mut, Regeln aufzustellen und Konsequenzen zu ziehen, weil sie fürchten, damit gegen das Schulgesetz oder die Schulordnung zu verstoßen oder die Eltern gegen sich aufzubringen. Sie wälzen die unentbehrlichen Grenzziehungen entweder auf die Eltern oder gar den Staat ab. Da die Kinder aber auf der Suche nach Regeln sind, die in der Welt
außerhalb
des Elternhauses gelten, müssen die Menschen Antworten geben (und geben dürfen!), die dort unmittelbar dafür zuständig sind. Das sind nun mal in erster Linie die Lehrer. Dass die Hausaufgaben gemacht werden, sollte zum Beispiel spätestens ab der dritten Klasse möglichst eine Angelegenheit zwischen Lehrern und Schülern sein.
Polizei und andere staatliche Ordnungshüter sind andererseits für Kinder im Schulalter viel zu anonym und von der Zuordnung her viel zu weit weg, um die richtige Balance zwischen Recht und Unrecht, Angemessenem und Unmäßigem aufzuzeigen. Erst in der nächsten Entwicklungsstufe, im Jugendalter, werden staatliche Organe als Grenzwächter die angemessene und geforderte Institution sein.
Lehrer sind für die Entwicklung der Persönlichkeit der Kinder auch deshalb so wichtig, weil sie der ideale Gegenpart sind, an dem die Kinder ihre langsam wachsenden Persönlichkeitskräfte immer wieder messen können. In vielen Provokationen von Schulkindern steckt die unbewusste Frage an den Erwachsenen: Wie stark bist du? Kriege ich dich schon unter oder bist du noch stärker als ich? Behandelst du mich wie ein Baby, dessen »Kräfte« man nicht ernst nehmen muss, oder fühlst du dich durch mich ernsthaft herausgefordert, so dass du wirklich innerlich kämpfen musst, um mir nicht zu unterliegen? Kannich mich noch an dir festhalten, oder bist du so schwach und nachgiebig, dass ich dich lieber links liegen lassen sollte und verachten muss? Wie wichtig dieses Kräftemessen für die Entwicklung der Kinder ist, wird oft übersehen, wenn Lehrer und Schüler im Clinch liegen.
Nicht jedes Kind braucht dabei die Auseinandersetzung mit jedem Lehrer. Kinder verteilen sich sozusagen die Arbeit. In jeder Kindergruppe gibt es die herausfordernden »Vorkämpfer«, die hinterhältigen »Antreiber« und die nur scheinbar unbeteiligten »Zuschauer«. Die sichtbare individuelle Auseinandersetzung zwischen dem einzelnen Schüler und dem Lehrer oder Erzieher ist nur das äußere Symptom für die Frage
aller
Kinder einer Gemeinschaft nach der persönlichen Souveränität und Kraft des Erwachsenen. Und die Antwort gilt in der Regel für alle.
Glücklich können sich die Kinder schätzen, die auf Erwachsene treffen, die sich erlauben, erwachsener, älter, ohne Zweifel »stärker« zu sein als das »schwierigste«, herausforderndste Kind und es trotzdem nicht ablehnen, demütigen oder erniedrigen.
Die dritte Kategorie sind Erwachsene, denen das Kind hie und da begegnet. In unserer Zeit sind Kontakte zu dieser Personengruppe normalerweise auf kurze Begegnungen begrenzt. Zur Kassiererin im Laden, zum Friseur, zur Kieferorthopädin kann ein Kind nur eine flüchtige, oberflächliche Beziehung aufnehmen.
Früher war das anders und in vielen Lebenserinnerungen spielen gerade die Menschen eine wichtige Rolle, die weder zur Familie gehörten noch beruflich mit Kindern befasst waren. Die »normalen« Erwachsenen eben, die im Dorf oder Stadtteil arbeiteten, die immer anwesend waren und zu denen man aufeigene Faust irgendwie Kontakt aufnehmen konnte: Der Schuster, der Schmied, der Bäcker, die Waschfrau, der Gärtner, der Kaufmann um die Ecke. Und im Umgang mit diesen Persönlichkeiten, Charakteren und Typen haben Kinder viel über menschliche Eigenschaften erfahren: über Humor und Nachsicht, über Wut und Strenge, über Verständnis und Hilfsbereitschaft, über Hilflosigkeit und Inkonsequenz. Die Kinder konnten selbst entscheiden, ob sie zu diesen Erwachsenen lieber auf Distanz bleiben oder näheren Kontakt suchen wollten. Dabei haben sie ihre Menschenkenntnis testen und schulen können.
Marion Gräfin Dönhoff beschreibt die Bedeutung dieser fern stehenden und zugleich nahen Menschen:
Auf solche Weise habe ich vieles gelernt. Beim Chauffeur
Weitere Kostenlose Bücher