Große Kinder
»Nationalgefühl« zu entwickeln, von machthungrigen Erwachsenen immer und immer wieder übel missbraucht. In allen totalitären Systemen gab und gibt es Kinderorganisationen, die in geradezu teuflisch-genialer Weise das Gruppen- und Zugehörigkeitsbedürfnis der Kinder dieser Altersstufe ausnutzen, um die Kinder frühzeitig ideologisch auszurichten.
Die deutschen Erfahrungen mit totalitären politischen Systemen und ihren jeweiligen Jugendorganisationen haben dazu geführt, dass in Deutschland in besonderem Maße Vorbehaltegegenüber bestimmten Verhaltensweisen bestehen, die gerade für die Altersstufe der Acht- bis Zwölfjährigen besonders typisch sind: Viele Pädagogen finden »Bandenbildung« von Kindern ebenso Besorgnis erregend wie das aufkeimende Nationalgefühl bei sportbegeisterten Zehnjährigen. Hinter den Kämpfen der Jungen wird ebenso schnell mörderisches Aggressionspotenzial gewittert wie faschistisches Gedankengut bei den Intrigen der Mädchen.
Man kann eine natürliche Entwicklungsetappe nicht ohne spätere Folgen unterdrücken oder gar auslassen wollen. Kinder wachsen mit Sicherheit von allein aus entwicklungsbedingten »Verhaltensauffälligkeiten« heraus, wenn wir Erwachsenen so miteinander umgehen, wie wir es unseren Kindern anerziehen wollen.
Wenn Kinder nicht genügend unbefangene Erfahrungen im Umgang miteinander sammeln können, werden sie später versuchen, das Verpasste nachzuholen oder in ihrer Orientierungslosigkeit stecken bleiben: Dann wird es zum Beispiel nicht mehr mit einem »Lieblingsfeind« und begrenzten Auseinandersetzungen getan sein. Die Unsicherheit wird sich dann in Intoleranz, dauerhafter Abwehr oder sogar in handgreiflichem Hass gegen unsympathische oder andersartige Menschen äußern. Das enttäuschte Bedürfnis nach selbst entdecktem Wir-Gefühl wird sich in mangelndem Einfühlungsvermögen, fehlendem Gemeinschaftssinn oder in Eigenbrötlertum niederschlagen, vielleicht sogar in eine generelle Angst vor Menschen umwandeln. Oder umgekehrt in ein unersättliches Bedürfnis nach der Gesellschaft von Menschen münden, in deren Gegenwart man sich dennoch einsam fühlt. Die Unerfahrenheit im Umgang mit Gleichaltrigen wird bei den um ihre Kindheit Betrogenen dazu führen, dass sie als Erwachsene möglicherweiseunsicher, gehemmt, isoliert, unnahbar und kontaktarm sein werden und sich mit abwehrenden Verhaltensweisen die anderen Menschen vom Leibe halten wollen – sei es durch Rückzug in die Einsamkeit oder durch Aggressionen.
Doch wer bin ich?
Die Entwicklung des Selbst
G anz wichtig ist es für Kinder in dieser Altersstufe, zu erfahren, wo sie im Vergleich zu gleichartigen, also gleichaltrigen Menschen stehen. Es geht darum, die eigene Position innerhalb der Gemeinschaft der Gleichaltrigen zu definieren, herauszufinden, welchen Stellenwert man innerhalb der eigenen Generation hat. Zentrales Thema ist also die Entwicklung des Selbst-Wert-Gefühls oder des Selbst-Konzepts, wie es die Wissenschaftler nennen.
Nur im Zusammenspiel mit Altersgenossen können die Fragen beantwortet werden, die jedes Kind in dieser Lebensphase unbewusst umtreiben: Wer bin ich? Wer und wie sind die anderen Menschen, die mit mir in meiner Welt leben, die mich, mein Leben lang, als Teil meiner Generation begleiten werden? Wo stehe ich unter ihnen?
Kinder beginnen in diesem Alter, sich selbst, die Freunde und auch die Erwachsenen nach anderen Merkmalen zu unterscheiden als bisher. Zwar stehen, wie bei den jüngeren Kindern auch, in dieser Altersphase am Anfang noch Merkmale im Vordergrund, die man sehen und äußerlich wahrnehmen kann: Körpermerkmale im engeren Sinne (trägt eine Brille, ist dick, ist dunkelhäutig) oder im weiteren Sinne der Körperfähigkeiten (kann unheimlich schnell rennen, ist sehr stark). Allmählich aber treten auch innere Charaktereigenschaften in den Blickpunktder Kinder: ist mutig, traut sich nichts, ist gewitzt, »blickt’s keinen Meter«.
Albert Camus erinnert sich, wie er seine Kameraden und sich selbst wahrgenommen hat:
Mit einigen komplizierteren Regeln füllte dieses Tennis für Arme den ganzen Nachmittag aus. Pierre war der Geschickteste; schlanker als Jacques, auch kleiner, fast schmächtig, so blond wie er braun war, blond bis hin zu den Wimpern, zwischen denen sich seine geraden blauen Augen wehrlos darboten, etwas gekränkt, erstaunt, scheinbar linkisch, war er beim Spiel von präziser, gleichbleibender Geschicklichkeit. Jacques
(Camus selbst)
Weitere Kostenlose Bücher