Große Kinder
Prozessen des Werdens und Wachsens, dass siekeine Orientierung für ihre eigene Entwicklung haben, weil sie, in Altersgruppen unterteilt, gewissermaßen in Weltraumkapseln, in denen es kein Wachstum gibt, isoliert durchs Leben fliegen.
Selbstverständlich kann die Lösung des Problems an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend nicht die Rückkehr zur Großfamilie oder die Kopie eines mittelalterlichen Dorflebens sein, genauso wenig, wie es in unserer hoch entwickelten, technisierten Welt kein kompromissloses »Zurück zur Natur« geben kann. Aber ebenso, wie wir darüber nachdenken, wie man den Energieverbrauch verringern kann, ohne auf Elektrizität, Mobilität und technischen Fortschritt zu verzichten, so müssen wir auch darüber nachdenken, wie wir die Kinder auf den Boden zurückholen und wie wir ihnen wieder einen Zugang zu natürlichen Entwicklungsprozessen geben können, damit sie in ihrem tiefsten Innern erfahren: Ich bin lebendig, ich darf unvollkommen sein, ich werde und wachse, ich habe eine Zukunft! Und: Alles hat seine Zeit.
Teil II
Entdecker, Eroberer, Siedler, Experten und Aufständische
D ie allgemeinen Lebensthemen, wie sie im Teil I beschrieben wurden, bleiben im Alter zwischen etwa 7 und 13 Jahren im Wesentlichen gleich. Innerhalb dieser Altersgruppe gibt es aber selbstverständlich entwicklungsbedingte Veränderungen: Der Unterschied zwischen Acht- und Zwölfjährigen ist offenkundig. Auch von einem Geburtstag zum anderen sind bei jedem Kind deutliche Veränderungen spürbar. Manchmal verwandeln sich Kinder sogar innerhalb von Wochen und sind in ihrem Wesen kaum wieder zu erkennen.
Veränderungen im Verhalten von Kindern werden oft auf äußere Einflüsse zurückgeführt: Wird das Kind schwierig, vermuten Pädagogen heute meistens, dass dahinter Probleme mit dem Elternhaus, der Schule, den Freunden oder den allgemeinen Lebensbedingungen stecken. Wird es ruhiger, ansprechbarer, führen die Erwachsenen diese Veränderungen meistens auf ihre Erziehungskünste zurück. Zuweilen stimmen diese Zusammenhänge, daran besteht kein Zweifel. Jede Veränderung im Werden und Wachsen der Persönlichkeit eines Kindes aber auf äußere, womöglich erzieherische Einflüsse zurückzuführen, hieße, dass man eine eigenständige Entwicklung aus dem Kind selbst heraus leugnen würde.
Leider ist die Überzeugung, dass die erziehenden Erwachsenen allein für das Verhalten des Kindes verantwortlich sind, aber weit verbreitet. Deshalb werden Kinder, wenn sie »schwierig« sind, von »verantwortlichen« Erwachsenen hin- und hergezerrt (das nennen die Erwachsenen dann »er-ziehen«) oder zur »Behandlung« geschickt. In »ruhigen« Phasenlehnen sich die Erwachsenen stolz zurück und denken, es sei alles in Ordnung, und verkennen dabei, dass dem Kind vielleicht ganz wichtige Grundlagen für seine gesunde psychische Entwicklung fehlen.
Mir selbst hat folgende Vorstellung von Entwicklung geholfen, bestimmte alterstypische Lebensbedürfnisse von Kindern und damit ihr entwicklungbedingtes Verhalten besser zu verstehen:
Glücklicher Säugling!
Dir ist ein unendlicher Raum noch die Wiege,
werde Mann, und dir wird eng die unendliche Welt.
In diesen Worten von Friedrich Schiller zeigt sich Entwicklung als ein Prozess, in dem sich der Mensch von einer kleinen, begrenzten und beschützenden Lebenswelt in eine größere Lebenswelt hineinentwickelt. So gesehen wird jede Welt eines Tages zu eng, weil der Mensch aus ihr »herausgewachsen« ist.
Zwischen der Wiege und der Welt aber liegen Welten! Nicht nur eine, sondern mehrere. Bis das neugeborene Kind körperlich, geistig, seelisch und sozial so weit ist, dass es in die Welt hinausgehen kann, wird es seine ganze Kindheit und Jugend brauchen, in der es nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich wächst: in immer wieder neue Welten hinein, die größer werden, einen weiteren Horizont bieten, neue Perspektiven eröffnen und in denen die körperlichen und geistigen, aber auch die sozialen und emotionalen Anforderungen größer werden.
Jedes Mal ist die neue, größere Lebenswelt zu Beginn unübersehbar groß und erscheint grenzenlos. Allmählich wächst das Kind körperlich, geistig, sozial und emotional in sie hinein. Dann füllt es sie aus, indem es alle Möglichkeiten dieser Welt ausschöpft und zunehmend beherrscht, bis schließlich dieGrenzen, die vorher eine beschützende Notwendigkeit waren, zum Hemmnis für die weitere Entwicklung werden und durchbrochen
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