Große Kinder
werden müssen, um die daran anschließende, wieder größere und anspruchsvollere Welt neu zu entdecken, zu erobern, auszufüllen und wieder an Grenzen zu stoßen ...
Ganz am Anfang der Entwicklung ist dieser Prozess fast mit symbolischer Klarheit zu erkennen: Nach einer geborgenen Zeit der Schwangerschaft wird die Welt im Mutterleib eines Tages zu eng und nur noch hinderlich für die weitere gesunde Entwicklung. Mit der Geburt tritt das Kind dann in eine neue Welt ein, die Körper, Geist und Seele vollkommen neu fordert. Der normale Zeitpunkt hierfür liegt überall auf der Welt etwa in der 40. Schwangerschaftswoche, obwohl manche Kinder »zu früh« und andere »zu spät« zur Welt kommen. Normalerweise erfolgt der Übergang ganz natürlich, wenn die Zeit dazu reif ist, das heißt wenn die Entwicklung diesen Schritt erfordert. Er kann von außen weder beliebig beschleunigt noch hinausgezögert werden (auch nicht mit Medikamenten, die Wehen hemmen oder fördern!).
Wenn das Kind auf die Welt gekommen ist, ist es zwar »auf der Welt«, aber sein Lebensraum ist noch längst nicht »die Welt«. Die Welt des Säuglings ist aus unserer Erwachsenensicht winzig klein, aus der Perspektive des Neugeborenen aber unendlich groß. Das Kind wächst, erwirbt und übt die Fähigkeiten, die zu seinem Alter und zu seiner Lebenswelt passen, und wird eines Tages so weit herangereift sein, dass es gleichsam über die Gitterstäbe des zu eng gewordenen Kinderbettchens hinüberklettert und in die Welt des Kleinkindes vorstößt. Aus der Welt des Kleinkindes wächst es weiter in die Welt des großen Kindes hinein, aus dieser in die Welt des Jugendlichen, bis auch diese Welt zu eng werden und der junge Mensch in die Welt des Erwachsenen eintreten wird.
Damit ist die Entwicklung der Persönlichkeit selbstverständlich noch nicht abgeschlossen. Auch als Erwachsener brauchen wir für unsere Weiterentwicklung immer wieder breitere Entfaltungsmöglichkeiten in neuen, anspruchsvolleren Lebenswelten mit einem größeren Radius, die ein paar Jahre früher für unsere Fähigkeiten und unseren Entwicklungsstand noch einige Nummern zu groß gewesen wären.
Und ist nicht sogar im Lauf der Menschheitsentwicklung etwas Vergleichbares geschehen, indem die Menschen, wenn es ihnen zu eng, zu bekannt geworden war in ihrer vertrauten Welt, aufgebrochen sind zu neuen Ufern: geistig, kulturell, räumlich und sozial? Und war die Erweiterung dieser Horizonte nicht immer begleitet von schmerzlichen Grenzüberschreitungen und heftigen gesellschaftlichen Erschütterungen?
Die Größe und die Anforderungen der jeweiligen natürlichen Lebenswelt entsprechen dem Entwicklungsstand des Menschen: Es ist ebenso schädlich, sogar lebensbedrohend, zu lang in einer zu klein gewordenen Lebenswelt festgehalten zu werden, wie zu früh in eine zu große, unübersichtliche, überfordernde Lebenswelt hineingestoßen zu werden.
Ob beim Eintritt in die Schule, bei der Ankunft an einem unbekannten Ferienort, in einem neuen Wohngebiet oder – in weit größeren Zeiträumen – im Lauf der historischen Entwicklung: Wenn Menschen in einen neuen Lebensraum kommen, scheinen sie sich im Prinzip immer nach folgendem Muster zu verhalten:
Wenn der Durchbruch in die neue Lebenswelt erfolgt ist, tritt wie im Moment einer Entdeckung ein Augenblick der Besinnung und Beruhigung ein: Die neue Welt, deren Ausmaße unübersehbar scheinen, wird zunächst einmal vom Rand aus taxiert, beobachtet, und erste Schritte werdenprobiert. Das geht bei manchen ganz schnell, andere bleiben länger in dieser Rand- und Beobachterposition stehen und lassen die Forscheren den nächsten Schritt tun:
die Welt erobern und ihre Grenzen suchen: Man muss feststellen, welche Möglichkeiten diese neue Welt bietet, welche Regeln und Gesetze dort herrschen und dazu gehört unabdingbar, dass die Grenzen zunächst missachtet werden. Erst dadurch können sie wahrgenommen werden und müssen, auch zum eigenen Schutz, erfahren und abgesteckt werden.
Dann lässt man sich innerhalb der abgesteckten, Sicherheit gewährenden Grenzen sozusagen häuslich nieder. Aus der so gewonnenen Geborgenheit heraus werden dann
die Möglichkeiten der neuen Lebenswelt aufgegriffen, zunehmend beherrscht und ausgeschöpft, bis man alles kennt und kann und
zwangsläufig an die Grenzen stößt, die jetzt als Einengung erlebt und mit aller Gewalt durchbrochen werden müssen.
Es öffnet sich eine neue, größere, kompliziertere
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