Große Kinder
durch Korrektur, Lernen und Training. Dazu gehört, auch für die Kinder selbst, die Bewertung in Maßeinheiten, die von Erwachsenen erdacht sind: Wenn ein Kind in der 4. Klasse in Mathematik eine Drei hatte und in der 7. immer noch auf einer Drei steht, dann muss es den Eindruck haben, es habe sich in den drei Jahren nicht im Geringsten weiterentwickelt. Ist das nicht eine glatte Irreführung? Muss dieses Urteil nicht jedem Menschen die Zuversicht nehmen: Ich werde und wachse?
Ich glaube, dass viele Sorgen, die Erwachsene mit den so genannten Verhaltensstörungen von Kindern und Jugendlichen haben – und vielleicht auch einige der Probleme, die Erwachsene untereinander haben –, viel mehr, als wir bisher ahnen, damit zusammenhängen, dass Entwicklung als natürlicher und langwieriger Prozess nicht mehr erlebt wird. Die Folge ist, dass moderne Menschen keine Beziehung zum PhänomenEntwicklung mehr haben und ihnen das fehlt, was ich »Entwicklungszuversicht« nennen möchte.
Ein Beispiel, diesmal aus der Erwachsenenwelt: Viele Trennungen von Paaren gehen meiner Beobachtung nach zum einen darauf zurück, dass die Partner nicht ertragen, dass sich die Beziehung verändert hat, weil sich jeder von ihnen als Person inzwischen weiterentwickelt hat. Schlimmer ist aber, dass die meisten Paare nicht daran glauben, dass es auch in einer Beziehung eine Weiter-Entwicklung geben kann, dass Disharmonie nicht das Ende sein muss, sondern eine Durchgangsphase sein kann, so wie die Trotzphase oder die Pubertät in der Entwicklung des einzelnen Menschen.
Wenn Schwierigkeiten auftreten, erwarten die Menschen keine Veränderung mehr, sie glauben, so schrecklich, wie es jetzt gerade ist, wird es auf immer und ewig bleiben. Hoffnung besteht nur, wenn es wieder so werden könnte »wie früher« oder wenn ein radikaler Strich gezogen wird. Unvollkommenheit auszuhalten, haben wir offenbar genauso verlernt wie Geduld zu haben und zuversichtlich auf eine Weiterentwicklung zu vertrauen.
Dasselbe gilt für die Probleme mit den Kindern: Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann sehen Eltern, Lehrer und Erzieher – und damit leider auch die Kinder und Jugendlichen selbst – darin oft einen Endzustand, die endgültige, nicht wieder gutzumachende Katastrophe, den Untergang der Welt. Aber genauso wie der Weltuntergang – entgegen aller Voraussagungen – bisher nicht eingetreten ist, haben trotz aller Probleme auch die »schwierigsten« Kinder noch eine Entwicklung vor sich – wenn wir sie ihnen zugestehen.
Dennoch erfahren selbstverständlich auch die Kinder der heutigen Zeit, dass sie größer werden: nicht nur an den Kleidern, aus denen sie immer wieder herauswachsen, und nichtnur an den wachsenden Anforderungen in der Schule. Allerdings sind das zwei wundervolle Messlatten für Wachstum, weil sie klar nummeriert sind: Wenn Größe 140 nicht mehr passt und man beim Kleiderkauf zum Ständer mit der Nummer 152 aufrücken muss, dann spürt man, dass man gewachsen ist, genauso, wie wenn man am ersten Schultag nach den Sommerferien nicht mehr in die 3., sondern in die 4. Klasse geht.
Bezeichnenderweise messen Kinder unserer Zeit ihr Wachstum auch am Umgang mit den Medien: daran, welche Sendungen, Filme, Computerspiele sie schon verstehen und verkraften können. Es gehört heute für etwa Zwölfjährige zu den so genannten Initiationsriten (damit sind Erlebnisse gemeint, die man erst bestehen kann, wenn man eine gewisse Reife erreicht hat), harte Sex-and-Crime-Filme anzuschauen. Wenn man das schafft, ohne gefühlsmäßig über die Maßen ergriffen zu werden, dann ist man »groß und stark«: eine moderne Messlatte für Reifung, die mit Sinneserlebnissen und Körperlichkeit, mit Wissen, Können und Geschicklichkeit, mit räumlichen und sozialen Veränderungen nur noch entfernt zu tun hat.
Moderne Kinder haben diese Medienmesslatte für sich selbst geschaffen, weil sie, wie überall und zu allen Zeiten, Merkmale für ihr eigenes Wachstum brauchen. Sie spüren selbst, dass Reifung Veränderung bedeutet, dass Wachstum damit zu tun hat, etwas hinter sich zu lassen und in neue Gefilde vorzustoßen.
Es geht – gerade im Empfinden der Kinder selbst – um die schrittweise Veränderung vom Unfertigen zum Fertigen, vom Unreifen zum Reifen, vom Laien zum Könner, vom Kind zum Erwachsenen!
Darum ist es gerade für Kinder dieser Altersstufe in meinen Augen so ein herber Verlust, dass sie weitgehend abgeschnitten sind von den
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