Große Kinder
nicht dafür interessieren, was hinter dem rätselhaften Gewirr von Buchstaben steht. Und während das eine Kind schon am Ende der Kindergartenzeit zu einer echten Zusammenarbeit mit einem anderen Kind in der Lage war, mag das andere noch zu Beginn der 2. Klasse nicht dazu fähig sein, sich anderen bei der gemeinsamen Arbeit mit-zu-teilen und die Vorschläge der anderen aufzugreifen.
Dennoch steht die Mehrzahl der Kinder zwischen 6 und 7 Jahren an einem Neubeginn. Nicht nur die Schule und die Umgebung des Elternhauses ist neuer Lebensraum mit all ihren Neuheiten, Herausforderungen und Versprechen. Auch im Innern der Kinder, in der Art des Denkens, der Art, Dinge zu sehen und seelisch zu verarbeiten, in den Beziehungen zu den anderen Menschen öffnen sich vollkommen neue Perspektiven, wenn auch nicht schlagartig und nicht bei allen Kindern gleichzeitig.
Die neuen Perspektiven im geistigen Bereich
Ein Kleinkind kann vielleicht auswendig lernen: »Drei und zwei ist fünf«, so wie es auswendig lernt: »ABC, die Katze lief im Schnee.« Dabei ist die Drei das eine, die Zwei das andere und die Fünf das Nächste. Es könnte genauso gut heißen: »Drei und fünf ist zwei«, kann ja sein, warum nicht! Irgendwann zwischen 6 und 8 Jahren »sieht« das Kind auf einmal regelrecht, dass Drei und Zwei, wenn sie zusammen auftauchen, immer irgendwie etwas mit Fünf zu tun haben und dass in Fünf immer Zwei und Drei drinstecken. Das ist bei den Fingern nicht anders als bei der Familie mit Papa und Mama und Michi und Lina und Anja. Wenn man das entdeckt hat, dann ist es völlig egal, ob man gefragt wird, was »fünf weniger zwei« ist, oder ob man gefragt wird, was »fünf weniger drei« ist. Das muss man dann nicht mehr auswendig lernen, das ist einfach offen-sichtlich.
Ein Kind, das diese neue Art, mit Mengen und Zahlen umzugehen, entdeckt hat, wird einen riesigen Spaß entwickeln, mit Mengen und Zahlen zu jonglieren, zu »spielen«. Für ein Kind dagegen, dem sich diese andere Perspektive noch nicht eröffnet hat, werden Zahlenspiele, Rechenaufgaben und Mengenlehre ein absoluter Graus sein. »Anders« zu denken kann man nämlich nicht beigebracht bekommen, das kann nur jeder für sich selbst entdecken, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Man kann höchstens darauf aufmerksam gemacht werden, dass man die Dinge auch anders sehen kann.
Zur Entwicklung des Denkens hat es viele wissenschaftliche Untersuchungen gegeben, die besonders von Jean Piaget (1896 - 1980), dem großen Pionier der Entwicklungspsychologie, angeregt worden sind. Er hat zum Beispiel herausgefunden, dass ein Kind – erst! – mit etwa 7 Jahren begreift, dass dieMenge Wasser, die es aus einem schmalen hohen Glas in eine flache Schale schüttet, keineswegs weniger geworden ist, obwohl es doch so aussieht, weil das Wasser in der Schale tiefer steht. Auch wenn beim Umschütten nichts danebengeht, glauben jüngere Kinder fest daran, dass in der Schale viel weniger Wasser ist als vorher im Glas. (Oft vergessen wir Erwachsenen, dass Kinder wirklich noch ein bisschen »dumm« sind, wenn sie klein sind. Wir setzen Fähigkeiten voraus, die noch nicht da sein können.) Siebenjährige werden ein wenig »schlauer«, sie wissen zum Beispiel, dass die Menge Ton dieselbe bleibt, ob ich nun eine große oder viele kleine Kugeln daraus forme. Sie können im Kopf behalten, dass alles wieder so werden kann wie vorher: Auch wenn der Ton im Moment geteilt ist, kann man ihn wieder zu einem Klumpen formen. Egal was man daraus macht, es bleibt gleich viel Ton. Und wird das Wasser wieder ins hohe, schmale Glas zurückgeschüttet, wird dieses wieder so voll sein, wie es vorher war (wenn nichts danebengeht ...). Das ist eine Form von abstraktem Denken, die jetzt neu ist und von den Kindern entdeckt, ausgetestet und genossen wird.
Auch dieses Denken entwickelt sich weiter. So können die meisten Kinder erst mit etwa 8 Jahren begreifen, dass die Erde um die Sonne kreist (und nicht umgekehrt). Um zu verstehen, dass die Erde sich dabei auch noch um sich selbst dreht, muss man wieder ein Stückchen reifer sein. Kleine Kinder, auch die meisten Siebenjährigen, sind dazu noch nicht in der Lage.
Ein ganz wichtiger Schritt im Alter zwischen 6 und etwa 8 Jahren ist in unserer Kultur das Lesenlernen. Lesen ist wahrhaftig der Schlüssel zu einer anderen Welt! So wie zu Beginn des Lebens das Greifen und dann das Laufen, so erschließt das Lesen eine vollkommen neue
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