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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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Dimension des Lebens. In unserer Welt wimmelt es nur so von geschriebenen Botschaften, diesich schlagartig entschlüsseln, wenn man lesen gelernt hat und darüber hinaus das Gelesene verstehen kann. Denn geschriebene Botschaften umfassen eine viel weitere Welt als die, mit der es das Kind bisher konkret zu tun hatte.
    Zugegeben, wenn Mama vorliest, dann hat man es auch mit einer Welt zu tun, die nicht konkret vorhanden ist, aber immerhin ist Mama da, die notfalls »dolmetschen« kann, die als Überbringerin der Botschaft auch noch einen persönlichen Bezug zum Vorgelesenen herstellt. Wenn man selbst lesen kann, erschließt man sich ganz selbständig die weite Welt, ohne dass jemand anderer die Auswahl trifft und entscheidet, was vorgelesen wird und was nicht. Man stößt dabei zwar auf viel Unverständliches, aber diese Rätsel gehören dazu und sie werden sich im Lauf der kommenden Jahre allmählich lösen.
    Fernsehbilder öffnen Kindern heute schon sehr früh den Zugang zu weit entfernten, nicht konkret fassbaren, für sie unverständlichen Welten. Wie sehr die Inhalte, aber auch die spezielle Symbolik von Fernsehbildern, die uns Erwachsenen ohne weiteres verständlich sind, das Fassungsvermögen von Kindern überfordern   – oder fördern?   –, darüber zerbrechen sich zur Zeit eine Menge von Wissenschaftlern die Köpfe. Klar ist, dass Schrift noch immer ein wichtiges Kommunikationsmittel ist, das Kindern erst zugänglich wird, wenn sie über ein bestimmtes Maß an Abstraktionsfähigkeit verfügen.
    Lesenkönnen macht auch »größer«: Wenn man zum Beispiel nach Hause kommt und einen Zettel vorfindet, auf dem die Zeichen stehen: ICH BIN BEI EVA, KOMM BITTE RÜBER, MAMA, heißt das ja nicht nur, dass Mama bei der Nachbarin ist, sondern dieser Zettel sagt darüber hinaus   – und das ist viel wichtiger: Mama kann mir jetzt etwas mitteilen, auch wenn sie nicht da ist. Und ich weiß dann, was ich zu tun habe und brauche mich nicht zu beunruhigen. Das wiederumberuhigt Mama, und deshalb kann sie ihren Sohn oder ihre Tochter auch ein Stückchen mehr loslassen.
    Lesen können heißt Denken können. Oder ist es umgekehrt, kommen Kinder deshalb mit 6, 7   Jahren in die Schule und lernen dort lesen, schreiben und rechnen, weil sie jetzt anders, abstrakter denken können?
    Es hat groß angelegte Versuche gegeben, Kindern schon im Kleinkindalter (ungefähr mit 3   Jahren) Lesen und Schreiben beizubringen. Mit Erfolg. Die Kleinen konnten lesen und mit Einschränkung, weil sie feinmotorisch noch nicht weit genug entwickelt waren, auch schreiben. Der Vorsprung, mit dem sie in die Schule kamen, war aber nach wenigen Jahren dahin: Denken und verstehen konnten diese Kinder auf die Dauer doch nicht besser als ihre Altersgenossen, die erst mit 6   Jahren lesen und schreiben gelernt hatten.
    Offenbar ist die Einschulung mit 6   Jahren aus der Perspektive der (meisten) Kinder »richtig«: Sie sind reif für eine neue Welt mit neuen Horizonten, und die brauchen sie jetzt auch, um sich gesund und harmonisch weiterentwickeln zu können.
    Die neue Perspektive in den sozialen Beziehungen
    Wenn ein Kindergartenkind sagt: »Inge ist meine Kindergärtnerin«, steckt dahinter das Gefühl:
Inge ist meine ganz persönliche, eigene Kindergärtnerin
. Dass außerdem noch andere Kinder in Inges Gruppe sind, ist für die persönliche Beziehung zwischen dem einzelnen Kindergartenkind und der Erzieherin ziemlich nebensächlich.
    Schon in der 1.   Klasse sagen die meisten Kinder dagegen von sich aus: »Frau Schütz ist unsere Lehrerin.« Dieser Aussage liegt ein vollkommen neues Beziehungsgefühl zugrunde:
Ich und die anderen Kinder in meiner Klasse, wir alle gemeinsam
haben eine Lehrerin, Frau Schütz, die zu uns allen gehört, ich bin Teil einer Gemeinschaft.
Das ist im sozialen Empfinden eine völlig neue, viel weitere Dimension!
    Diese neue Dimension wird auch in der Beziehung zu den Eltern spürbar. War beispielsweise Auflehnung, Ungezogenheit, Unfolgsamkeit bisher ein Kräftemessen und Grenzen-Ausprobieren, das die Zweisamkeit von Mutter oder Vater und Kind nicht wirklich aufbrechen konnte, so wird schon bei manchen Erstklässlern die »Ungezogenheit« zum wirklich aufbegehrenden, distanzierten Widerspruch. Das Bedürfnis (und die Fähigkeit!), zu den engsten Bezugspersonen auf Distanz zu gehen, ist neu und unverkennbar. Das Kind entdeckt nämlich, dass es außer der eigenen Mutter, die bisher zweifellos die einzig echte, wirkliche

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