Große Kinder
ihrer Sprösslinge überall auf der Welt: Sie trauen ihnen zu,allein vertraute Wege zu gehen (zunächst zum Kindergarten, dann zur Schule) oder kleine Aufträge selbständig zu bewältigen (allein zum Bäcker zu gehen, oder, in anderen Ländern, dem Vater das Essen aufs Feld zu bringen).
In der modernen Gesellschaft werden Kinder in diesem Alter in eine vollkommen neue, fremde, große Welt hineingestellt, die über weite Entwicklungszeiträume hinweg lebensbestimmend sein wird: die Schule.
Der chilenische Schriftsteller Pablo Neruda erinnert sich:
Das Gymnasium war ein Gelände von ungeahnten Ausmaßen für meine sechs Jahre. Alles verhieß Geheimnisse. Der Physiksaal, dessen Zutritt mir verwehrt war, angefüllt mit betörenden Instrumenten, Retorten und Reagenzgläsern. Die ewig geschlossene Bibliothek ...
(Neruda, S. 14)
Ein kleines, angesichts der Dimensionen wieder winzig kleines Kinderherz, das da staunend vor dieser riesigen, neuen, faszinierenden Welt steht und sie erst einmal nur auf sich wirken lässt ... So ähnlich müssen sich viele Kinder fühlen, wenn sie in die Schule gekommen sind.
Viele Eltern erleben die Wandlung ihres Kindes vom unbändigen »Sechsjährigen«, das am Ende der Kindergartenzeit mit seiner seelischen Energie »aus allen Nähten zu platzen« schien, zum stolzen, staunend-offenen, gleichwohl verhaltenen Erstklässler mit großer Verwunderung. Wo vor kurzem noch ein Lebensgefühl von Eingeengtsein und überschießender Kraft vorzuherrschen schien, wird jetzt in der Ausstrahlung vieler Kinder etwas spürbar, was man vielleicht in die Worte fassen könnte: »Die Welt ist grenzenlos offen und sie steht mir zur freien Verfügung.«
Es scheint, als gelte für die Kinder ein ungeschriebenes Gesetz: aufschauen zu den Großen (Schülern), beobachten, was sie tun und treiben, versuchen sie nachzuahmen, werden wie sie. Noch zaghaft, versuchsweise, am Rand. Denn noch ist man nicht aufgenommen in die Gemeinschaft der Schulkinder, noch ist man unabstreitbar der kleine, unerfahrene, nichts ahnende »Erstklässler«, der seinen Weg in diese Welt der großen Kinder erst finden muss.
Jeder von uns kennt die Situation, neu zu sein in einer Gemeinschaft. Jeder hat schon einmal in solchen Situationen die widerstreitenden Bedürfnisse des Dazu-gehören-Wollens und der Unsicherheit, Gehemmtheit, die aus dem Fremdsein entstehen, gespürt. Jeder weiß, dass es im Grunde zwei mögliche Verhaltensweisen auf diese unangenehme gespaltene Situation gibt: sich zurückhalten, beobachten und warten, bis man von den anderen angesprochen und in die Gemeinschaft aufgenommen wird, oder aktiv auf die anderen zugehen und alle Unsicherheiten überspielen. Eine souveräne Gelassenheit im Stadium des Neuseins ist selten. Retter in der Not sind meist Menschen, die sich ebenfalls als Neulinge erweisen: Zu ihnen findet man schneller Kontakt, Neulinge halten sich in dieser ungemütlichen Situation bereitwillig aneinander fest.
So ähnlich ist auch die Situation der Erstklässler, der Neuankömmlinge in der Welt der größeren Kinder: Da ist einerseits der Stolz und die Erleichterung, die »alte« Welt endlich hinter sich gelassen und den Schritt in die neue Welt getan zu haben. Andererseits aber ist eben alles noch fremd und groß, weit weg, unerreichbar, unverständlich und unüberschaubar.
Und genau so, wie wir es auch als Erwachsene kennen, verhalten sich manche Kinder überheblich und großspurig, so als wüssten sie schon alles und als könnte ihnen keiner etwas vormachen. Sie verbergen damit nur ihre Unsicherheit undihren sehnlichen Wunsch, nicht neu und fremd zu sein. Andere dagegen werden über die Maßen schüchtern, brav, angepasst. Sie lauern im Innern darauf, »gern gehabt«, angenommen und aufgenommen zu werden. Und oft kann man beobachten, dass Kinder beide Verhaltensweisen, so widersprüchlich sie auch sind, in sich vereinigen.
Auch wenn in Deutschland die Kinder überwiegend sechs Jahre alt sind, wenn sie in die Schule kommen, sind sie doch keineswegs alle gleich weit entwickelt. (Deshalb ist es wenig sinnvoll, so entscheidende Entwicklungsschritte wie die Einschulung an Geburtsdaten festzumachen.) Zwar stehen alle Schulanfänger gemeinsam an der Schwelle zu einer neuen Lebenswelt mit neuen geistigen, emotionalen und sozialen Horizonten. Aber die einen haben einen Teil der neuen Welt schon längst betreten und können beispielsweise schon lesen, während die anderen sich noch längst
Weitere Kostenlose Bücher