Große Kinder
entwicklungsbedingten Verhaltensweisen eines Kindes erkennen zu können, muss man wissen, an welchem Punkt der Entwicklung ein Kind gerade steht. Dazu braucht man Vergleiche, Maßstäbe, an denen man sich orientieren kann. Solche Maßstäbe haben im Umgang mit Kindern aber ihre Tücken: Die Gefahr ist groß, dass Eltern und Erzieher das Kind zu eng daran messen. Wenn das Kind die »normgerechte« Entwicklungsstufe noch nicht erreicht hat, geraten Eltern leicht in Panik und denken, ihr Kind sei nicht »normal«. Dabei gleichen sich im Lauf der Entwicklung Unterschiede meistens aus. Eltern, deren Kind offenkundig schon »weiter« ist, als es für sein Alter »normal« ist, geraten dagegen in Gefahr, ihr Kind zu überfordern, weil nicht alle Entwicklungsbereiche gleich weit entwickelt sind. Bei hoch begabten Kindern zum Beispiel erlebt man immer wieder, dass sie geistig zwar weit voraus sind, aber in ihrer emotionalen Entwicklung, in ihren seelischen Bedürfnissen noch genauso klein und schutzbedürftig sind wie ihre Altersgenossen.
Dennoch gibt es im Großen und Ganzen entwicklungstypische Lebensbedürfnisse und Verhaltensweisen, die besonders häufig bei Kindern eines bestimmten Alters auftreten. Wie es scheint, treten diese alterstypischen Verhaltensweisen in allenKulturen etwa zum selben Zeitpunkt auf: Überall und zu allen Zeiten beginnen Kinder mit etwa einem Jahr zu laufen und zu sprechen, überall auf der Welt findet man besonders unter den Zwölfjährigen Kinder, die sich für stark genug halten, das Leben selbst in die Hand zu nehmen.
Je weiter die Entwicklung fortgeschritten ist, umso stärker wirken sich Erziehungs- und Umwelteinflüsse aus. So sind Jugendliche bei uns oft bei weitem nicht so selbständig und lebensgewandt wie ihre Altersgenossen in anderen Kulturen. Das hängt damit zusammen, dass Jugendlichen in unserer Gesellschaft eine eigenständige Lebensführung aufgrund der Schulpflicht und der schlechten Arbeitsaussichten beinahe unmöglich gemacht wird. Das hängt aber vielleicht auch damit zusammen, dass sie im Alter zwischen 7 und 13 nicht die Lebensbedingungen hatten, um sich altersgemäß entwickeln zu können, und sie nicht die Lebenserfahrungen sammeln konnten, die in dieser Lebensphase natürlicherweise »dran« gewesen wären.
Entwicklung ist immer ein Zusammenspiel von Innen und Außen. Aber so wie man vereinfachend sagen kann, dass Maiglöckchen im Mai blühen, auch wenn sie im einen Jahr schon im April in voller Blüte stehen und im anderen Jahr Mitte Mai noch kaum Knospen entwickelt haben, so kann man auch in der Entwicklung des Menschen für bestimmte Erscheinungen Altersangaben machen, die sich an dem Alter orientieren, in dem diese Phänomene
meistens
auftreten. Man darf dabei aber nie vergessen, dass es ganz natürliche Schwankungen nach oben und nach unten gibt und dass die Entwicklung der verschiedenen Persönlichkeitsbereiche nicht immer genau parallel verläuft. Und selbstverständlich ist Entwicklung ein schleichender, fließender Prozess, in dem sich verschiedene Entwicklungsphasen überlagern. Ein Kind kann gleichzeitig Züge eines »Siebenjährigen« und eines »Achtjährigen« haben.
Wo befinde ich mich?
Die »Siebenjährigen«
I n allen Kulturen werden die Kinder, wenn sie ungefähr 7 Jahre alt sind, von den Erwachsenen anders behandelt und gefordert als in den Jahren davor. Offenbar stehen Menschen in diesem Alter generell an einer Schwelle zwischen »klein« und »groß«, und offenbar bleibt diese Veränderung auch den Mitmenschen nicht verborgen.
Mit etwa 6 Jahren beginnen Kinder von sich aus ihren Lebensradius ganz konkret auszuweiten. Auch wenn sie schon früher im Schlepptau älterer Geschwister herumgestreunt sind, Streifzüge außerhalb der Sichtweite der Eltern also nichts Neues für sie sind, so fühlen sie sich trotzdem meistens erst mit etwa sechs, sieben Jahren sicher und stark genug, auf eigene Initiative, aber wenn möglich in Begleitung von anderen Kindern, eigenständig ihre Umgebung auszukundschaften. Das Lebensgefühl, das dahinter steckt, ist neu. Bei den vielen Kindern in unserer Gesellschaft, die keine älteren Geschwister haben, ist oft auch die Entdeckung der Nachbarschaft, das Erkunden fremder Gärten oder Wohnblocks, das Herumstreunen in weniger vertrauten Straßen, das Spielen in der freien Natur, sofern sie nah beim Elternhaus liegt, eine neue, aufregende Erfahrung.
Eltern spüren und nutzen die neuen Fähigkeiten und Kräfte
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