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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oggi Enderlein
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schleunigst aus dem Staube.
(Dönhoff, S.   149)
     
    Glücklicherweise brauchen nicht alle Kinder derartige Grenzerfahrungen im Umgang mit Tieren, um tierliebe, einfühlungsfähige, menschlich handelnde Erwachsene zu werden. Irgendwo sitzt ein Kompass, der auch ohne Test ganz zuverlässig funktioniert   – wenn er nicht zerstört wird. Käme nämlich ein Erwachsener zu solchen »Kinderspielen« dazu und signalisierte er den Kindern mit oder ohne Worte: »Macht nur weiter, mir ist es egal, was mit dem Tier passiert«, wäre das
auch
für die Kinder grausam, weil sie damit ihre Orientierung vollends verlieren würden.
    Die Grenzen zwischen Gebrauch und Misshandlung im Umgang mit Tieren   – und den Mitmenschen   – sind in verschiedenen Kulturen außerordentlich unterschiedlich gezogen. Fest steht aber, dass Kinder etwa im Alter von 8   Jahren versuchen herauszubekommen, wo diese Grenzen in den Köpfen der Erwachsenen und nach den Regeln der Kultur, in die sie hineinwachsen, verlaufen.
    Aber wo liegen diese Grenzen in der »Fernsehkultur«, aus der so viele Kinder heute ihre Maßstäbe nehmen? Was ist, wenn aus dem Fernsehgerät   – und damit aus der Erwachsenenwelt   – unentwegt die Botschaft kommt: Gewalt gegen andere gehört dazu, sie ist ganz normales Verhalten? Wer bricht bei diesen alltäglichen Grausamkeiten den fürchterlichen Bann, wenn die Kinder als ohnmächtige Zuschauer in die Lust der Grausamkeiten gezogen sind? Und wer wirft sich mit hysterischemKreischen auf den Fernsehapparat und schreit: Hört auf, hört endlich auf!?
    Respektloses
    Achtjährige fühlen sich groß, stark und übermächtig. Sie haben trotz der Orientierungslosigkeit, in der sie sich befinden, normalerweise ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein   – noch! Ab etwa 12   Jahren beginnt es dann zu wackeln. Ohne Selbstbewusstsein könnten sie jetzt aber Grenzen überhaupt nicht suchen, geschweige denn überschreiten!
    Wenn man groß, stark und mächtig wird, geraten die Menschen, die man bisher für die einzig Großen, Starken und Mächtigen hielt   – die Eltern   –, in einen unabwendbaren »Schrumpfungsprozess«. Und der muss gelegentlich abgetastet und überprüft werden: Acht-, Neunjährige benutzen dafür   – unbewusst   – zwei Methoden:
Obwohl vermutlich der größte Teil der Missetaten von Acht-, Neunjährigen
nicht
von Erwachsenen entdeckt wird, gehen die Kinder irgendwann an einem Punkt doch zu weit, so weit, dass die Erwachsenen auf ihre Übertreibungen, Untaten und Regelmissachtungen aufmerksam werden
müssen.
Dann erwarten sie eine Stellungnahme der Erwachsenen. In Bruchteilen von Sekunden kann sich dann entscheiden, ob der betreffende Erwachsene von Stund an geachtet oder missachtet wird. Unerwartet mit der Situation konfrontiert, kann sich nämlich kein Erwachsener verstellen, und die Kinder können genau ausloten, wie es um seine Entschiedenheit, Grenzen zu ziehen, um seinen verständnisvollen Humor, seine persönliche Betroffenheit und seine Souveränität bestellt ist. Diese Methode eignet sich besonders gut, um die »neuen« Bezugspersonen, nämlich die Lehrer, auf den Prüfstand zu stellen.
Acht-, Neunjährige haben das unwiderstehliche Bedürfnis, die bislang als Autorität geachteten Erwachsenen (das sind in der Regel die Eltern) von ihrem Podest zu stürzen: Sie fangen an zu erkennen, dass die ehemaligen Halbgötter erstens durchaus fehlbar und zweitens angreifbar sind. Sie glauben ihnen sicherheitshalber deshalb gar nichts mehr. (Dafür stehen die Lehrer jetzt hoch im Kurs.) So ist es: Sie selbst überschreiten zwar munter Regeln und Grenzen, aber an die Erwachsenen legen Acht-, Neunjährige strenge moralische Maßstäbe an! Sie beobachten ihre Eltern haargenau und rügen unverhohlen deren »Unarten«. Kaum ein Vater oder eine Mutter entkommt den Erziehungsversuchen und der unerbittlichen Kritik der eigenen Kinder, die natürlich genau die wunden Punkte ihrer Eltern treffen.
    Kritik ist unangenehm. Folglich reagieren die meisten Eltern verärgert und unwirsch auf ihre ewig unzufriedenen »Motzkis« und liefern ihnen damit nur einen weiteren Anlass zur Kritik   ... Eine unglücklicher Zirkel von gegenseitigen Meckereien und Gereiztheiten entsteht. Weil die Erwachsenen nicht erkennen   – und noch weniger verstehen   –, dass das acht- oder neunjährige Familienmitglied gerade in einem inneren Umbruchprozess steckt, verlieren sie ihre eigene Standfestigkeit und lassen sich selbst in die

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