Große Kinder
angeklebt wird, das Meerschweinchen, das in die Badewanne mitgenommen wird ...
Diese »Tierversuche« der Acht-, Neunjährigen haben einen vollkommen anderen Charakter als die der drei- bis fünfjährigen Kleinkinder: Kleine Kinder »misshandeln« Tiere aus einem gedankenlos-neugierigen Manipulationsdrang heraus. Wenn ein Vierjähriger einer Fliege die Flügel ausreißt, dann ist das für ihn im Grunde nichts anderes, als wenn er einem Gänseblümchen die Blütenblätter auszupft: Er will sehen, wie Gänseblümchen und Fliege hinterher aussehen, was sich verändert. Er will jedenfalls nicht in erster Linie erkunden, wie die Fliege wohl auf seine »Operation« reagieren wird, er tut es nicht, um festzustellen, wie weit er bei der Fliege gehen kann. Genau aber diese Frage steht mehr oder weniger bewusst hinter den Ideen der Acht-, Neunjährigen, die sehr wohl »wissen«, was sie tun, aber nicht wissen, ob sie damit noch im vertretbaren Rahmen liegen oder schon die Grenzen des Zumutbaren überschreiten.
Marion Gräfin Dönhoff spricht es direkt aus:
Es gab fünf Hennen und einen Hahn. Sie waren noch nicht lange da, als wir auf den Gedanken kamen, auszuprobieren, was wohl passiert, wenn wir den Hühnern Brot zu fressen geben, das in Alkohol getränkt ist.
Der Effekt war verblüffend ...
(Dönhoff, S. 149)
Kinder begegnen in diesen Spielen und Experimenten jenem schaurig-verlockenden, abstoßend-lustvollen Gefühl, das bei Erwachsenen, zum Sadismus verzerrt, so furchtbar außer Kontrolle geraten kann.
Warum werden aber nicht alle Menschen, die in ihrer Kindheit solche Erfahrungen gesammelt und diesen zwiespältig-faszinierenden Gefühlen begegnet sind, später zu Sadisten, Tierquälern, Schlägern oder Kriegsfanatikern? Wahrscheinlich, weil sie als Kind am Ende doch begriffen haben, dass sie die Grenze zur Misshandlung eines Lebewesens überschritten haben. Weil es nicht bei dem Gefühl des »sadistischen Vergnügens« geblieben ist, sondern weil sie zusätzlich ein anderes tief gehendes Gefühl erlebt haben: die Betroffenheit darüber, dass sie sich schuldig gemacht haben, dass sie zu weit gegangen sind. Dabei haben sie nicht nur gelernt, Grenzen wahrzunehmen, sondern auch, sie zu respektieren. Diese Klärung hilft ihnen später, zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit zu unterscheiden und die eigenen sadistischen »Bedürfnisse«, die irgendwo in uns allen schlummern, aus Achtung vor dem anderen zu unterdrücken.
Die Berichte von oben gehen nämlich wie fast alle anderen vergleichbaren Geschichten weiter.
In von Vegesacks Erzählung hatte der geachtete Hauslehrer der beiden Jungen Wind von der Sache bekommen:
Aber furchtbar waren seine Augen, als er einmal Boris und Aurel zu sich ins Zimmer rief.
»Was habt ihr getan?« fragte er und seine Stimme bebte.
»Den alten Gockel gejagt«, antwortete Boris.
»Und warum habt ihr das getan?«
»Weil wir Krieg spielten«, sagte Boris unbekümmert.
»Ist das ein ritterlicher Kampf: ein armes, wehrloses Tier zu jagen?« Die schwarzen Augen loderten so, daß die Jungen den Blick zu Boden schlagen mußten. Dann hörten sie eine tonlose, eindringliche Stimme:
»Ich strafe nie. Euer Gewissen wird euch selbst strafen. Denkt mit aller Kraft an die grausamen Qualen, die ihr dem unglücklichen Tier zugefügt habt, und betet zu Gott, daß er euch verzeiht!«
Der Gockel wurde nie mehr gejagt ...
(Vegesack, S. 106 f.)
Bei Günter de Bruyn gerieten die Jungen zunächst noch tiefer in den Taumel der Grausamkeiten, die
Lust
, wie es de Bruyn nennt. Doch dann heißt es:
Da sprang meine Schwester, die mich bei Beginn der Rattenjagd schon beiseite gezogen hatte, mit hysterischem Kreischen auf Wolfgang zu, warf ihn, der sich nicht wehrte, ins Gras, zerrte an seinen Haaren und schrie: »Hört auf! Hört endlich auf!« ...
Zu den Sagen aus Heldenzeiten, die ich in den Jahren danach meinem Freund Hannes erzählte, gehörte diese Geschichte nicht. Auch meine Geschwister erwähnten sie nie, und mir gelang zeitweise, sie zu vergessen ...
(Bruyn, S. 28)
Und auch bei Marion Gräfin Dönhoff erlebten die Kinder die Konsequenz ihres Experiments:
Groß aber war unser Entsetzen, als Frau Olschewski am Abend erschien und meiner Mutter berichtet, sie habe den kostbaren Hahn schlachten müssen, weil er plötzlich krank geworden sei. »Wieso denn krank?« – »Er zitterte und torkelte immerfort hin und her.« Wir machten uns
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