Große Kinder
Situation der Acht-, Neunjährigen: Sie sind aufsässige kleine Revolutionäre, die Grenzen heimlich oder herausfordernd überschreiten, wo sie nur können. Der große Unterschied zwischen Acht-, Neunjährigen und Cäsar ist aber der, dass Cäsar definitiv nicht zurückgehalten werden wollte. Acht-, Neunjährige verlieren sich, wenn sie nicht gehalten werden. Sie stellen die
Berechtigung
der Grenzen im Grunde nicht in Frage. Sie stellen die Grenzen vielmehr auf die
Probe
. Und sie wollen die Welt von einer anderen Seite aus kennen lernen.
Ein typisches Beispiel für eine Grenzüberschreitung in die Welt der Erwachsenen ist in unserer Kultur das Rauchen. In Gesprächen, die ich mit Erwachsenen zum Thema Grenzüberschreitungen in der Kindheit führte, berichtete die Mehrzahl derer, die jemals geraucht haben, dass sie mit 12 oder mit 13 die erste – verbotene – Zigarette geraucht hätten. Mit erstaunlicher Übereinstimmung sagten aber einige andere: »Das war ungefähr in der 2. Klasse, also mit etwa 8 oder 9 Jahren.« Fragte ich bei denen nach, die spontan 12 oder 13 Jahregenannt hatten, ob das wirklich die allererste Raucherfahrung war, kam häufig eine andere Erinnerung zum Vorschein: »Nein, es stimmt, als ich zum ersten Mal geraucht habe, war ich 8« (oder 9, selten 7). Und dann kam die beschämt-belustigte Geschichte dieser allerersten, allerheimlichsten, inzwischen fast vergessenen Pfeife oder Zigarette, die irgendwo im sicheren Versteck gemeinsam mit dem Freund oder der Freundin »geraucht« worden ist. Im Schlepptau von älteren Kindern wurde auch schon mal mit 7, sogar 5 Jahren gepafft. Auffallend ist, dass kaum jemand sagte, er sei 10 oder 11 Jahre alt gewesen. Und kein Einziger sagte, er habe mit 8 »angefangen zu rauchen«. Nein, mit 8 war das Rauchen noch ein kleiner, harmloser, heimlicher Streich.
Gerade am Symbol Rauchen wird deutlich, dass Grenzüberschreitungen in der Kindheit je nach Alter zwei verschiedene Signale beinhalten: An der Schwelle zur Pubertät mit 12, 13 Jahren hat das Rauchen eine vollkommen andere Bedeutung als bei Acht-, Neunjährigen: Zwölfjährige drücken mit ihrer Grenzüberschreitung aus: »Ich finde mich schon so groß, dass ich jetzt auch rauche!« Damit wollen sie signalisieren, dass sie dabei sind, die Kinderwelt zu verlassen und sich anschicken, endgültig in die Welt der Jugendlichen einzutreten. Bei Achtjährigen heißt rauchen: »Ich rauche,
weil
es verboten ist« – und im Grunde kein Zweifel daran besteht, dass es in den nächsten Jahren bei diesem Verbot bleibt. Sie tun ganz bewusst etwas, von dem sie genau wissen, dass sie es bestimmt nicht tun dürften, weil sie noch zu jung dafür sind. Sie überschreiten also eine Grenze, von der sie eigentlich zurückgehalten werden wollen.
Dahinter steht der Wunsch, dass es den Erwachsenen nicht egal sein soll, wenn man in diesem Alter Grenzen, die zu weit draußen liegen, die »zu weit gehen«, überschreitet. Achtjährigestellen mit ihrem Verhalten unbewusst die Frage, ob die Erwachsenen sie zurück-
halten
und zurecht-weisen würden, wenn sie die Grenzüberschreitung entdeckten. In ihrem Verhalten sprechen sie ohne Worte die zentrale Frage ihres Lebens aus: Wie weit kann ich gehen – wie weit lasst ihr mich gehen, ehe ihr mich zurückhaltet? Wie weit ist die Welt und wo endet sie, in der ich mich frei, ungefährdet, eigenverantwortlich bewegen kann?
Nun werden wahrscheinlich die meisten Kinder, die mit 8 Jahren rauchen, keineswegs entdeckt und zurechtgewiesen. Und sie werden trotzdem nicht zu Gewohnheitsrauchern. Offenbar kommen sie selbst »zur Vernunft«. Woran liegt das?
Es gibt ja durchaus Kinder, die nicht von allein zur Vernunft kommen und tatsächlich mit 8 Jahren anfangen, regelmäßig zu rauchen. Straßenkinder zum Beispiel. Ich habe auch Kinder aus verwahrlosten Familienverhältnissen erlebt, die mit 8 Jahren zwar heimlich, aber regelmäßig geraucht haben. Offenbar werden eher solche Kinder zu Gewohnheitsrauchern, die kein sicheres Zuhause, das heißt keinen Halt durch erwachsene Bezugspersonen haben. Kinder aus sozial problematischen Verhältnissen, die regelmäßig geraucht hatten und mit 9, 10 Jahren in Familienheimgruppen aufgenommen worden sind, hörten von selbst auf zu rauchen, ohne dass das Thema Rauchen von den Erziehern besonders angesprochen worden wäre.
Ralf zum Beispiel war aus desolaten Verhältnissen heraus mit 9 Jahren ins Heim gekommen. Er war
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