Große Kinder
13, als wir uns in der Therapie begegneten. Nach der ersten Kennenlernphase probierte er aus, wie weit er sich mir gegenüber öffnen konnte, und erzählte mir von allerhand Schandtaten. Ich fragte nach dem Rauchen. Darauf sagte er mit einer umwerfend herablassenden Abgeklärtheit und mit einer verächtlichen Handbewegung, die meine offenkundig völlig danebengegriffene Frage in die Kategorieder Kindergartenthemen verwies: »Rauchen? Das habe ich mir schon mit 10 abgewöhnt!«
Offenbar hatte auch er mit der Aufnahme in die Heimgruppe die Erfahrung gemacht, die ein anderer Junge einmal ungefähr so beschrieb: Hier in der Gruppe gibt es zwar ärgerliche Regeln und Grenzen, an die ich mich leider halten muss, aber ich fühle mich hier sicher und aufgehoben, weil jemand da ist, den es interessiert, ob ich die Regeln beachte oder nicht, dem es nicht egal ist, was ich tue, dem ich wichtig bin, an den ich mich halten kann.
Wenn Kinder Verbotenes tun, stellen sie allerdings nicht nur die Regeln und Grenzen der Erwachsenen auf die Probe. Etwas zu tun, das verboten ist, erfordert immer auch eine Entscheidung
gegen
eine innere Stimme, die sagt: »Tu’s nicht, das ist verboten«, und
für
die andere innere Stimme, die sagt: »Tu’s doch, es macht Spaß, und außerdem schaffst du’s.« Sich für die Stimme zu entscheiden, die eigenständig, in eigener Verantwortung gegen die Regeln handeln will, ist eine nicht zu unterschätzende Willensleistung – auch wenn das die meisten Erwachsenen überhaupt nicht gern hören. Wie im Trotzalter und wieder in der Pubertät, ist das Überschreiten von Grenzen auch eine wichtige Übung der Willenskraft und der Eigenverantwortlichkeit. Kinder müssen ihre Kraft, etwas eigen-willig zu tun, erfahren, und suchen sich dafür passende Gelegenheiten.
Trotzdem erfährt man seine eigene Kraft letztlich aber nur, wenn man auf eine Gegenkraft stößt: Im Fingerhakeln mit den Erwachsenen wollen die Kinder letztendlich spüren, dass die Erwachsenen doch noch die Stärkeren, die Weiterentwickelten, eben die Erwachseneren sind, die das Kind im Zweifel immer noch halten können. Diese Erfahrung ist für jedes Kind, und sei es noch so aufsässig und schwierig, sehr beruhigend.
Herzloses
Die folgende Form von Grenzüberschreitung erscheint für uns erwachsene Vernunftmenschen besonders unverständlich und verwerflich. Ich erwähne sie, weil sie in vielen Lebensberichten in erstaunlicher Regelmäßigkeit auftaucht – nicht nur aus früheren Zeiten und von Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind. Vielleicht hat sie ja für die Entwicklung von Kindern eine größere Bedeutung, als wir wahrhaben wollen, und wenn wir wissen, dass ihr Auftreten kein Grund zur Panik ist, können wir gelassener und sicherer damit umgehen. Ich spreche von den Plünderungen von Vogelnestern und anderen »Spielen« und »Versuchen« mit Tieren. Meistens werden diese Erlebnisse von erwachsenen Erzählern mehr gebeichtet als geschildert. Kopfschüttelnd sehen sie auf ihre Untaten zurück, die sie aber doch, ganz ungeniert, im Alter von 8, 9 Jahren begangen haben.
Siegfried von Vegesack, der auf einem baltischen Gut gemeinsam mit einem gleichaltrigen Cousin aufgewachsen ist, schreibt:
Da plötzlich stürzte Boris mit wildem Geschrei, den Speer schwingend, in einen Cyrenenbusch, und gleich darauf schoß ein rostbrauner Hahn mit gesträubten, zerzausten Federn schrill krächzend über den Rasen. Das war eine aufregende, grausame Jagd. Manchmal setzte sich sogar der gereizte Gockel mit aufgeplusterten Flügeln zur Wehr. Nur dieser abgehetzte, cholerische wütende Hahn war der Feind – die anderen Hähne und Hühner wurden niemals gejagt.
(Vegesack, S. 102)
Auch Günter de Bruyn, in Brandenburg aufgewachsen, berichtet von einer ähnlichen Geschichte:
Die Wasserratte, die von Wolfgang gesichtet wurde, hatte bei zehn Verfolgern, die mit Stöcken, Bogen und Katapulten bewaffnet waren, keine Chance zu entkommen; sie flog ans Ufer, wurde in eine Sandkuhle getrieben und mußte jeden Versuch, den Kreis, den ihre Peiniger um sie gebildet hatten, zu verlassen, mit Stockhieben bezahlen, die immer von der Mahnung begleitet wurden: Schlagt sie nicht tot!
(Bruyn, S. 28)
Auch moderne Stadtkinder kennen solche Spielchen, mit denen sie ausprobieren wollen, wie weit sie bei Tieren gehen können: die Katze, die im Puppenwagen festgebunden wird, der Wellensittich, dem die Schwanzfeder abgeschnitten und wieder
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