Große Kinder
Neunjährige beginnen sich für das Phänomen Sexualität und Geschlechtlichkeit, das aus ihrer Sicht etwas typisch Erwachsenes ist, zu interessieren. Sie bleiben dabei normalerweise unter sich, haben aber die Erwachsenen aufmerksam im Blick. Die Beschäftigung mit der eigenen Körperlichkeit, dem Wachsen der eigenen sexuellen Gefühle, Bedürfnisse und Fähigkeiten wird aber erst ab ungefähr 12 Jahren zum Thema. Acht-, Neunjährige können sich trotzdem Hals über Kopf – also noch oberhalb der Gürtellinie – verlieben! Der sexuelle Kontakt mit der oder dem Geliebten ist normalerweise nicht das Ziel ihrer Sehnsüchte.
Erwachsene übersehen manchmal, dass Dinge, die in der Kinderwelt ablaufen, im Innern eine andere Bedeutung haben, als es nach außen hin erscheint. So »bearbeiten« Acht-, Neunjährige mit dem Thema Sexualität und Geschlechtlichkeit wohl mindestens vier Bereiche gleichzeitig:
Zunächst ist da natürlich tatsächlich die Beschäftigung mit allen Fragen zum Thema Sexualität, Geschlechtlichkeit, Körperlichkeit und allem, was damit zusammenhängt. Die Erforschung der Welt der Sexualität ist etwas ungeheuer Spannendes, Reizvolles und Aufregendes für Kinder in diesem Alter. Trotzdem bleibt bei Kindern, die nicht schon gewaltsam durch reale Kontakte oder überdeutliche Filmszenen in die Erwachsenensexualitäthinübergerissen worden sind, alles doch beim Ungefähren, Beinahe-Wissen, Beinahe-Verstehen. Denn das, was Kinder in ihrer Auseinandersetzung mit sexuellen und geschlechtlichen Fragen erfahren und erleben, hat noch eine völlig andere Dimension als die Sexualität Erwachsener: Ihre Gefühle, ihre Art miteinander umzugehen, und ihr Verständnis der Dinge haben zwar durchaus mit Erotik zu tun, aber dennoch besteht ein meilenweiter Unterschied zur Sexualität der Erwachsenen.
Auch hier bestehen nämlich zwei Welten, die nicht vergleichbar sind, nicht verwechselt oder vermischt werden dürfen: Kinder haben ihre eigene Welt, aus der sich die Erwachsenen raushalten sollen. Es ist das Thema der Kinder, die Grenzen und Unterschiede zwischen sich und den Erwachsenen zu finden. Wenn die Erwachsenen offen oder versteckt um Abgrenzungshilfe und sachliche Informationen gebeten werden, müssen sie natürlich behilflich sein. Aber sie sollen nicht die Kinder in ihre Erwachsenensexualität hinüberziehen und so tun, als gäbe es keine Unterschiede, als wären die Kinder schon »reif« genug, nur weil sie sich von sich aus mit sexuellen Themen beschäftigen. Kinder bis zur Pubertät sind auch und vielleicht gerade in diesem Bereich »anders reif«, eben kindlicher als Erwachsene.
Die Heimlichkeit und die verschlossenen Türen, hinter denen die Kinder ihre geschlechtlichen Entdeckungen und Spielchen, ihren Erfahrungs- und Phantasieaustausch betreiben, signalisiert deutlich: Lasst uns allein, das ist unsere Sache, da hat sich niemand einzumischen. Wenn, dann linsen wir durchs Schlüsselloch in eure Erwachsenenwelt hinüber, schließlich wollen wir wissen, wie es uns später mal gehen wird, aber bitte nicht umgekehrt!
Das zweite Thema, das in der Auseinandersetzung mit der Sexualität bearbeitet wird, ist, wie in allen Lebensbereichen,die spannende Frage: Wie weit kann man gehen, bis man an Grenzen stößt? Wo wird die Sache anstößig? Die Antwort auf diese Frage kann letztlich nur von den Erwachsenen kommen. So lassen die Kinder gelegentlich Versuchsballons los (wie wäre es mit einem aufgeblasenen Kondom?), um die Reaktion der Erwachsenen direkt zu testen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass sie auch in diesem Bereich die Antwort auf die Frage, wie weit sie gehen können, ohne Worte nur durch die Beobachtung von Erwachsenen einholen. Kinder spüren sehr genau, welche Einstellungen Erwachsene haben, sie lernen deren Bewertungen kennen, ohne je mit ihnen darüber gesprochen zu haben. Erwachsene brauchen sich also gar nicht erst zu verstellen. Kinder durchschauen sehr schnell eine mögliche Doppelmoral und Unaufrichtigkeit.
Drittens hat die Beherrschung des obszönen Wortschatzes und der dazugehörenden Zeichensprache für die Kinder einen außerordentlich wichtigen und praktischen Nebeneffekt: Man kann bei Altersgenossen hervorragend die beleidigend-herausfordernde Wirkung der einzelnen Ausdrücke ausprobieren und entsprechend genau gezielte Kränkungen vom Stapel lassen. Das funktioniert aber nur, wenn der Angesprochene seinerseits in die Bedeutung der Begriffe und Zeichen eingeweiht ist oder
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