Große Kinder
selbst ihre eigenen emotionalen Grenzen. – Wie oft endet Quatschmachen mit Tränen!
Das ist wohl eine der wichtigsten emotionalen Erfahrungen dieses Alters: an die Grenzen der eigenen Gefühle zu kommen und dieses Umschlagen von Ausgelassenheit und Übermut in Niedergeschlagenheit, Wut, Frustration oder innerer Leere zu erleben. Die emotionale Unausgeglichenheit, die alle Kinder dieses Alters in sich tragen, wird im Quatschmachen geäußert, nach außen gekehrt und damit geradezu therapeutisch bearbeitet und überwunden. Diese heilsame Erfahrung aber kann man nur selbst erleben, die kann man niemandem abschauen.
Gewiss ist es sehr vergnüglich zuzuschauen, wenn andere Quatsch machen, ob das nun leibhaftige Altersgenossen oder Fernsehfiguren sind: Slapstickfilme stehen bei Zweit- und Drittklässlern hoch im Kurs, was allerdings auch mit dem sich wandelnden Humorverständnis zu tun hat. Wenn aber Fernsehwesen Quatsch und Unfug machen, bleibt man doch irgendwie draußen, eben Zuschauer. Das ist ziemlich langweilig.
Vielleicht kann man dann wenigstens nach dem Fernsehen so richtig aufdrehen? – Kann man das? Oder stehen demüberarbeitete, mit sich selbst beschäftigte, genervte, verständnislose Erwachsene im Weg? Oder bleibt man auf seiner Lust zum Quatschmachen sitzen, weil kein Gesinnungsgenosse da ist, mit dem man gemeinsam überschnappen kann? (Jedes dritte Kind in Deutschland wächst ohne Geschwister auf, nur etwa ein Viertel der Kinder haben mehr als ein Geschwisterkind und wenn Geschwister da sind, dann ist der Altersunterschied häufig recht groß.) Oder stößt man mit seinen Verrücktheiten ins Leere, weil niemand da ist, der einen stoppt und zur Vernunft bringt, wenn man zu weit gegangen ist oder sich ganz und gar nicht mehr fangen kann?
Ohne richtig Quatsch zu machen, macht das Leben mit 8, 9 Jahren wahrlich keinen Spaß. Und aus therapeutischer Sicht ist ausgelassenes Quatschmachen geradezu notwendige »Seelenhygiene«, vorausgesetzt, dem Ausgelassensein der Kinder steht als ruhender Gegenpol die verständnisvolle und dennoch Grenzen ziehende Souveränität der Erwachsenen gegenüber.
Wertgeschätztes
Obwohl sie in dieser Zeit innerlich wahrlich desorientiert und widersprüchlich sind, schaffen es die Kinder auch wieder, die Ordnung, die ihnen so sehr fehlt, zum Thema zu machen und sich damit selbst Halt und Orientierung zu geben. Überall auf der Welt und wohl zu allen Zeiten erfinden Kinder ausgerechnet in diesem chaotischen Alter eine Art Währungssystem und »freie Marktwirtschaft«, in der aus dem Nichts heraus allmählich eine halbwegs feste Ordnung mit allgemein anerkannten Werten und Regeln entsteht. Zum Beispiel das höchst wonnevolle Währungssystem der Glitzer- und Glanzobjekte: Unsere Großmütter sammelten und tauschten Poesiealbumbilder, wir sammelten und tauschten die bunt bedruckten Silberpapierchen,in die Bonbons und Pralinen eingewickelt waren, meine Kinder sammelten und tauschten und tricksten mit Pailletten und Glanzbildern. Daneben gibt es die Währungssysteme der echten Sammelbilder, die man entweder kaufen kann oder die man sich eifrig eressen muss, weil sie Cornflakes, Haferflocken, Schokoladenriegeln und anderen Kindernahrungsmitteln beigepackt sind: Bilder von Fußballspielern, bedrohten Tieren, Dinosauriern, Comicfiguren und Briefmarken.
All diesen Sammeleien ist eines gemeinsam: Der Wert der »Währung« ist ein Gefühl. Ein ganz bestimmtes, deutliches, von Objekt zu Objekt unterschiedlich ausgeprägtes Gefühl. Das eine Objekt wiegt mehr, weil es tiefer gehende Gefühle anspricht als das andere. In mir steigt heute noch ein ganz bestimmtes Glückseligkeitsgefühl auf, wenn ich an jenes silberne Pralinenpapier mit den hellblau-türkisen Blümchen denke, das sonst niemand hatte und das ich um nichts auf der Welt hergegeben hätte. Es war einfach unbezahlbar! Die blaue Mauritius wäre daneben geradezu albern gewesen!
In ihren Tauschgeschäften tauschen sich die Kinder also auch ganz unmittelbar über ihre Gefühle aus: Sie erfahren, wer gleich fühlt und bewertet und wer anders. Dieser Vergleich zwischen Gemeinsamkeit und Individualität, diese wichtige Erfahrung im Spannungsfeld zwischen Gruppennorm und Einzelstandpunkt ist nur möglich, wenn man Teil einer Gruppe ist, die ein gemeinsames Wertsystem hat.
Die Gruppe wird auch deshalb allmählich zu einem ganz unentbehrlichen Teil des Lebens. Sie muss trotzdem noch lange nicht fest gefügt und überdauernd sein.
Weitere Kostenlose Bücher