Große Kinder
fünfzehnjährigen Jugendlichen. Den Kindern dieser scheinbar so unterschiedlichen Entwicklungsphasen ist gemeinsam, dass sie sich in einer neuen Lebenswelt neu orientieren müssen und zunächst nicht so recht wissen woher und wohin. Und so teilen die Kinder dieser verschiedenen Altersstufen die schmerzlichste Schattenseite eines ungewissen Lebens: die Angst.
In einem schon 1910 veröffentlichten Buch erinnert sich Otto Frommel gewiss an eigene Kindheitserfahrungen im Alter von etwa 8 Jahren, wenn er schreibt:
Überhaupt hatte er viel Angst auszustehen, der kleine Mannelin. Einst kam er gegen Abend an einem Buchladen vorbei. Dort hing ein Bild, das er immer wieder anschauen mußte, so sehr ihm auch davor graute. Ein alter Mann saß mit geschlossenen Augen in einem Lehnstuhl, ein aufgeschlagenes Buch auf seinem Schoß.
Neben ihm stand ein scheußliches Gerippe in langem wallendem Linnen und zog an einem Glockenseil, das von der Decke herabhing.
Mannelin stand und dachte: Wenn nun der alte Mann aufwacht und das Gerippe sieht. Und kein Mensch ist bei ihm! Das Haar sträubte sich ihm bei diesem Gedanken. Er konnte die nächste Nacht nicht einschlafen. Denn es war ihm immer, als stehe das Knochengerüst in der Finsternis neben ihm und werde im nächsten Augenblick die kalten Finger nach ihm ausstrecken.
(Frommel, S. 24)
1994 plagten den achtjährigen Pascal allabendlich vor dem Einschlafen schreckliche Lust- und Angstgefühle, weil er immerzu an die barbusig-nackten, aufreizenden Frauen denken musste, die ihn in den Zeitschriftenauslagen in ihren Bann zogen: Wie es Mannelin über 100 Jahre früher mit dem Bild im Buchladen erlebt hatte, musste Pascal die Abbildungen der nackten Frauen immerzu anschauen, obwohl sie ihm Angst machten.
Pascals Eltern haben eine unverkrampfte Einstellung zur Sexualität und sie begleiten mit großem Einfühlungsvermögen und pädagogischer Verantwortung das Werden und Wachsen ihrer Kinder. Sexueller Missbrauch lag bei Pascal mit Sicherheit nicht vor. Dafür spricht auch die Tatsache, dass er mit beiden Eltern über seine Ängste sprach und abends bei ihnen Ablenkung und Geborgenheit suchte.
Tiefe Existenzängste bei acht-, neunjährigen Kindern, die vor allem vor dem Einschlafen hochkommen, sind relativ häufig. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass sich die Kinder vor einer neuen, großen Herausforderung in ihrem Leben fühlen, die ihnen, vollkommen unbewusst, zunächst unheimlich ist. Vielleicht hängt es mit der Orientierungslosigkeit in dieser neuen Welt der Kindheit zusammen, die ein Gefühl von Ausgeliefertsein erzeugt. Vielleicht ist es aber auch die neue Fähigkeit,Dinge anders zu sehen, womit auf einmal auch die Welt der Erwachsenen in einem anderen Licht erscheint und die Kinder manches, was sie bisher gar nicht wahrgenommen haben, als große Bedrohung erleben.
Meistens geht es bei den Ängsten der Acht-, Neunjährigen um Phantasien, von etwas oder jemandem bedroht zu sein und sich dieser Gefahr ohnmächtig und gelähmt gegenüberzusehen. Fast immer haben die Kinder einen realen Hintergrund für ihre Ängste, der aber aus Erwachsenensicht kein wirklicher Grund für diese »übertriebene« Angst sein kann:
Markus, der beim Golfkrieg acht Jahre alt war und in Stuttgart wohnte, »hörte« regelrecht vor dem Einschlafen feindliche Panzer und Flugzeuge aufs Haus zubrausen. Anja, die mit etwa drei Jahren von weitem einmal ein brennendes Haus gesehen hatte, ängstigte sich als Achtjährige plötzlich panisch vor Brandstiftern. Holger muss sich vor dem Schlafengehen immer selbst überzeugen, dass die Haustür abgeschlossen ist, weil er glaubt, dass mordende Skin-Banden nur darauf warten, dass die Tür einmal nicht abgeschlossen ist, um schnurstracks zu ihm ins Zimmer zu kommen. Benni hatte schon als kleines Kind Angst vor Hunden; als er in die 2. Klasse kam, wurde ihm auf einmal bewusst, dass er Angst vor Hunden hatte. Dieses Bewusstsein, eine Angst zu haben, die er nicht meistern konnte, beunruhigte und ängstigte ihn in der folgenden Zeit bis zur Panik.
Aus den verschiedenen Formen von Ängsten bei Acht-, Neunjährigen spricht sehr oft das Gefühl, schutzlos ausgeliefert zu sein, wehrlos und unfähig im Leben zu stehen, noch »zu klein« zu sein für die Bedrohungen der großen Welt.
Die meisten Kinder überstehen diese Phase wie eine Kinderkrankheit und ohne besondere therapeutische Hilfe. Allerdings brauchen Kinder, die von solchen Ängsten
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