Große Liebe Desiree
Obadiahs willen erst recht.
Aber sogar als sie beschloß, mehr Distanz zu wahren, erinnerte sie sich an den schmerzlichen Ausdruck auf Jacks Gesicht, während er von seiner toten Schwester sprach. Obwohl sie Mitgefühl für ihn empfunden hatte, hatte sie sich zurückgehalten und nicht versucht, ihn zu trösten. Er hatte unmißverständlich klargemacht, daß er allein sein wollte. Ein Mann, der so stolz wie Jack war, würde sein Leid mit niemandem teilen wollen. Vermutlich hatte er Angst, schon zuviel von sich preisgegeben zu haben, indem er nur Julias Namen erwähnte. Aber nun, da sie wußte, daß er eine geliebte Schwester verloren hatte, konnte sie sich erklären, warum er so verständnisvoll war, was Obadiah betraf. Sie wünschte, er hätte ihr gestattet, seinen Schmerz nun ihrerseits zu lindern. Vielleicht würde er es eines Tages zulassen.
Und was ihre Loyalität als Amerikanerin anging -Désirée schwor sich, daß kein Wort von Jacks privatem Kummer an das Ohr von Colin Macaffery dringen sollte.
Sie zog sich rasch an und flocht ihr Haar zu einem dicken Zopf, der ihren Rücken hinabhing. Nun, da der Sturm vorüber war, wollte sie wieder an Deck gehen, und ein Zopf schien ihr bei dem starken Wind die geeignetste Frisur zu sein. Ihre Gesichtshaut fühlte sich klebrig und gespannt an vom Salzwasser in der vergangenen Nacht, und, die Tür zu Jacks Kabine geflissentlich übersehend, machte sie sich mit dem Frühstückstablett in der Hand auf den Weg zur Kombüse, um etwas Wasser zu holen. Da jetzt der Herd wieder geheizt wurde, konnte sie vielleicht den Koch überreden, es ihr anzuwärmen.
Auf dem oberen Deck ging die Mannschaft ihrer Morgenarbeit nach. An den Geräuschen erkannte Désirée, daß sie länger geschlafen hatte als üblich. Kein Wunder, daß der Toast verbrannt war. Aber außer dem Arbeitslärm gab es noch ein anderes Geräusch, das sie nie zuvor an Bord der Katy gehört hatte, und sie blieb stehen, um zu lauschen.
Wer auch immer in der Offiziersmesse die Flöte spielte, er hatte mehr Talent, als gemeinhin auf See anzutreffen war. Auf einem Schiff war fast jeder Musikant willkommen, wenn er nur der Langeweile abhalf. Die Töne kamen zart und sicher, waren niemals schrill, und Désirée lächelte, als sie »Flowers of Edinburgh« erkannte, eines der Lieblingslieder ihres Großvaters. Mühelos machte der Spielende sich das Lied zu eigen, nahm es und variierte es vielfach, ehe er schließlich mit einer Selbstverständlichkeit, wie kein Lehrer sie vermitteln konnte, zu der Grundmelodie zurückkehrte. Ihm zuzuhören war ein reines Vergnügen, und Désirée hatte die Absicht, ihm das zu sagen.
Die Messe der Katy war klein. Es gab nur einen Holztisch mit einer gehämmerten Einfassung, damit die Teller auch bei schwerem Seegang an Ort und Stelle blieben, und zwei Bänke, die am Boden befestigt waren. Zwischen den Mahlzeiten wie jetzt hielt sich für gewöhnlich niemand hier auf. Eine dunkle Laterne pendelte hin und her. Das einzige Licht fiel durch ein Gitter von oben, und in einem Muster von Licht und Schatten saß auf einer der Bänke Jack, den Kopf mit den goldschimmernden Haaren über eine lange silberne Flöte geneigt. Sein Haar wurde wie üblich sorgsam von einem Band zusammengehalten, sonst aber war er gekleidet wie die anderen Männer, trug eine weite Hose und eine Wollweste unter dem Mantel, das Hemd war am Hals geöffnet. Er sah Désirée aus dem Augenwinkel und brach sein Spiel unvermittelt ab. Ein wachsamer Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.
Er hatte sich hierher geflüchtet, um zu spielen, wo sie ihn, wie er meinte, nicht hören konnte. Nach der letzten Nacht hatte er sie heute morgen nicht sehen wollen, und er wollte es noch immer nicht.
Es hatte für ihn keinen vernünftigen Grund gegeben, mit Désirée Sparhawk über seine Schwester zu sprechen. Warum konnte er Julia nicht in der Vergangenheit lassen, wohin sie gehörte und wo er sie zusammen mit dem Schmerz, den die Erinnerung jedesmal mit sich brachte, sorgfältig verborgen hielt? Er war kein einfältiger, sentimentaler Narr. Er war ein Kämpfer, Kapitän in der besten Marine der Welt. Er hatte schon viel riskiert und seine Befehle bis an die Grenzen ausgeweitet, indem er nach Amerika gegangen war. Wenn er jetzt schwankend wurde, würde er sein Vorhaben niemals ausführen können. Genausogut könnte er dem Oberbefehlshaber in Halifax gleich sein Offizierspatent zurückgeben und sich die öffentliche Demütigung eines Kriegsgerichts
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