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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frritz Mühlenweg
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die Felswände ein. Damals hieß der Ort ›Segensreiche
     Unterkunft‹, aber damit war es vorbei. Die Karawane lag zerquetscht unter den Felsen, sozusagen platt wie Reispapier, und
     das Feuer ging aus. Alle Hunde waren sofort tot, und alle zehn Stück Soldaten auch, denn es war eine Regierungskarawane, und
     die sechs Stück Kameltreiber lebten auch nicht mehr.«
    »Bis auf einen«, sagte Mondschein.
    »Unterbrecht mich nicht«, bat Kao-Scheng, »woher will der verehrte Herr Mondschein das wissen?«
    »Einer muss doch sein, der alles erzählt hat. Sonst wüsstest du nichts.«
    »Richtig«, sagte Kao-Scheng verblüfft, »aber es macht sich besser, wenn man den Überlebenden nicht sofort erwähnt. Er war
     ohnehin sehr jung, ein Knabe sozusagen. Er war gerade am Bach, als es passierte, und da fiel er ins Wasser und wurde nass,
     und die Kleider gefroren ihm am Leib, weil es Winter war. Der arme Kerl verlor den Verstand, aber ein kleiner Rest blieb ihm
     erhalten. Also packte er ein fliehendes Kamel, und weil es Nacht war, ich behaupte nämlich, dass es Nacht gewesen sein muss,
     kriegte er das schwächste zu fassen. Er ritt, und niemand weiß, wie er das fertiggebracht hat, aber wahrscheinlich nahm er
     Dörrfleisch mit, der Spitzbube, oder sonst was Gutes zu essen; kurz, er ritt, bis er nach Hsing-Hsing-Hsia kam. Dort erzählte
     er, in Segensreicher-Unterkunft sei der Himmel eingestürzt, und alle Hunde wären gestorben und alle Menschen bisauf ihn, und die meisten Kamele wären auch tot. ›Warum hast du nicht wenigstens die Übrigen mitgebracht?‹ fragte man ihn,
     aber weil er halbtot vor Schrecken war, ließ man ihn stehen. Ein wenig geschneit hatte es auch«, sagte Kao-Scheng, »und als
     man am fünften Tag nach dem Unglück zu Segensreicher-Unterkunft kam, schneite es wieder. Man fand aber bloß die eingestürzten
     Felswände, auf denen der Schnee lag, und ab und zu einen halben Arm oder so was wie einen zerdrückten Hund und ein paar Kistendeckel.
     Sofort merkte der Herr Grenzhauptmann, damals war es ein anderer, dass hier eine reiche Karawane totgegangen war. ›Welch ein
     Jammer!‹ schrie er laut. Es kann natürlich auch sein, dass er bloß ›Oh, abgrundtiefes Elend‹ schrie, doch kaum hatte er eines
     dieser zwei Worte geschrien, da lösten sich neue Felsbrocken, und es war ein Glück, dass die Herren vorsichtig am Bachrand
     weilten. So kamen sie lebend davon. Sie flohen ohne Aufhören nach Osten und Westen, nach Norden und Süden, und als sie wieder
     beisammen waren, sagten sie eine Zeitlang gar nichts, und dann ritten sie heim. Seither heißt der Ort Fallende-Wand.«
    »Und die Kamele?«, fragte Christian.
    »Und die Ladung?«, fragte Großer-Tiger, »wie war es mit der?«
    »Das ist es ja eben«, antwortete Kao-Scheng, »man fand nichts, sozusagen gar nichts. Später einmal gingen beherzte Kerle,
     herzhabende Tiger sozusagen, nach Fallende-Wand, und weil sich herausgestellt hatte, dass die Karawane Silberbarren zur Münze
     nach Peking bringen sollte, wollten sie eine kleine Nachlese halten. Selbstverständlich waren Beamte dabei, sehr zu verehrende
     Herren aus der Hauptstadt, aber sie sprangen geschwind fort, als große und kleine Steine herunterprasselten, bloß weil die
     Herren ein wenig geseufzt hatten wegen der vielen Toten, die man nicht sah, und wegen des Silbers, das auch nicht da war.
     Jetzt liegt der Platz verlassen, und keine Karawane geht mehr vom Nordweg nach Hsing-Hsing-Hsia, denn der neue Weg ist beschwerlich,
     und deshalb braucht man zwei Tage statt anderthalb. Mit Pferden natürlich, mit Kamelen dauert es länger.«
    »Aha«, sagte Mondschein, »das war also vor unserer Zeit.«
    »Es war, bevor die Herren unsere Gegend beehrten«, gab Kao-Scheng höflich zu, »sonst wäre so etwas kaum passiert.«
    »Gestattet der Herr Hauptmann«, fragte Dampignak, »dass wir den Ort Fallende-Wand morgen besichtigen?«
    »In meiner Gegenwart ist das eine Selbstverständlichkeit«, rief Kao-Scheng begeistert, »es ist sozusagen eine notwendige Ehre.«
    »Hauptmann«, sagte Mondschein und schlug ihm auf die Schulter, »du hast eine gute Idee.«
    »Habe ich die?«, fragte Kao-Scheng zweifelnd, aber fröhlich.
    »Du wirst bald Oberst sein«, behauptete Mondschein, »und ihr alle werdet Unteroffiziere.«
    Als Kao-Scheng seinen Soldaten das sagte, vergaßen sie sogar, dass sie kein Feuer hatten und dass sie ein bisschen froren.
     Einer stand auf und holte eine tüchtige Messingflasche, und

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