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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frritz Mühlenweg
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Schreiben
     des Generals Wu zur Stirn.
    »Wir haben auch zwei Worte«, erinnerte Großer-Tiger, »und sie lauten: ›Bittet meinen älteren Bruder Yang, er möge freundlich
     an mich denken.‹«
    Yang machte den Brief auf. Er entfaltete sorgsam das Blatt und überflog den Inhalt. Man sah aber nicht, ob das Schreiben etwas
     Gutes oder etwas Schlechtes enthielt. Das Gesicht des Marschalls blieb unbewegt. Er schaute nach den Weidenbäumen am Ufer
     des Teichs, aber es schien, als blickte er an ihnen vorbei.
    »Wir haben noch einen Brief«, sagte Christian zaghaft, und weil ihm die Worte Dampignaks einfielen, gab er Großer-Tiger einen
     Wink, und beide beugten die Knie zum Fußfall der Verehrung.
    »Unser großer Bruder Dampignak«, sagte Christian leise, »bat uns, diesen Brief kniend der sehr alten Exzellenz zu geben.«
    Diesmal hob Yang den Brief zur Stirn, bevor er ihn öffnete, und als er gelesen hatte, was darin stand, sprach er sofort: »Ihr
     habt mir Nachrichten gebracht, die vor zehn Tagen von einiger Bedeutung gewesen wären. Die Gewichte haben sich verschoben,
     es lohnt nicht, deswegen betrübt zu sein.«
    Er steckte die Briefe in den Ärmelaufschlag des Ischangs und schritt über die Parkwege und über die Kamelhöckerbrücke zurück
     in den Garten und vorbei an dem Zimmer, aus dem die Stimme Wui-Hung-Wens schallte. Man hörte etwas von »strahlendenHeldentaten« und von »Belohnung«, und Yang lächelte. Er ging ein wenig schneller, und er winkte Christian und Großer-Tiger,
     ihm zu folgen. Bisher war der Pudel hinterdrein getrottet. Jetzt, da er merkte, dass es woanders hinging, lief er schweifwedelnd
     neben Yang her.
    Es ging aber nicht weit. Hinter der Hausanlage, die den Garten umschloss, führte ein gedeckter Gang zu einer andern, die ähnlich
     war; aber sie war prächtiger und weiter. In der Mitte gab es einen hohen Empfangsraum, dessen Ziegeldach auf dicken roten
     Säulen ruhte. Zu beiden Seiten lagen helle Räume mit Glasfenstern. Statt eines Gartens dehnte sich im Innern des quadratischen
     Hofs eine Rasenfläche.
    Yang schritt an der Empfangshalle vorüber und öffnete die Tür zu dem zweiten Raum. Ein großer Tisch aus Rosenholz stand darin,
     auf dem die Kostbarkeiten der Studierstube wohlgeordnet lagen. Unbeschriebene Blätter und beschriebene Papiere lagen gesondert.
     Auf einem Lacktischchen an der Seite häuften sich Bücherstapel.
    Yang wies auf einen zweiten Tisch nahe beim Fenster. Niedere Hocker standen daneben, und als Großer-Tiger und Christian dem
     Wunsch des Marschalls folgten und sich zu ihm setzten, langte er die Briefe aus dem Ärmelaufschlag. Er sagte: »Ihr habt treue
     Botendienste geleistet, doch das Schicksal war gegen euch. Der General Wu-Pei-Fu hat mir den leeren Stuhl des Präsidenten
     von China angeboten. Er wusste, dass Eile nottat, allein einem Blitzbrief konnte er diese Nachricht nicht vertrauen. So kündigte
     er mir nur euer Kommen an und hoffte, dass ihr mich zur rechten Zeit erreichen würdet. Es ist zu spät geworden. Li-Yuan-Hung
     wurde zum zweiten Mal Präsident, weil meine Zusage fehlte.«
    »Wir bekennen, säumige Boten zu sein«, sagte Großer-Tiger.
    »Wir haben die notwendige Vorsicht, die man Wagendieben gegenüber anwenden muss, außer Acht gelassen«, sagte Christian.
    Yang schüttelte den Kopf. »So ist es nicht. Unverschuldetes Hemmnis ist kein Makel. Was heute unsern Augen gut oder böse erscheint,
     kann sich morgen ins Gegenteil wandeln.«
    »Aber Dampignak«, sagte Christian, »ist es gestattet, zu fragen, wie es mit ihm war?«
    »Dampignak«, antwortete Yang, »erkannte die Zusammenhänge, als er den Blitzbrief abfing, der euer Kommen anzeigte. Vielleicht«,
     sagte Yang lächelnd, »hat er bei euch ein wenig auf den Busch geklopft.«
    »Das hat Mondschein getan«, rief Christian.
    »So so?«, sagte Yang. »Wie dem auch sei, des Himmels Befehl lautete anders. Dampignak wollte sich zum König aller Mongolen
     südlich der neuen Grenzen machen. Er versicherte mir Gehorsam und Treue zum Reich der Mitte, wenn ich als Präsident in dieses
     Vorhaben willigte. Ich hätte ihn gewähren lassen«, sagte Yang, »denn er war ein Mann, der zu seinem Wort stand. Nun sank sein
     Licht in die Tiefen der Erde, und wir betrauern ihn.«
    »Wie konnte dieses geschehen?«, fragte Großer-Tiger.
    »Dampignak fiel durch Mörderhand«, antwortete Yang.
    Er stand auf, ging zu seinem Schreibtisch und kam mit einem großen Buch wieder, in dem er einige Seiten

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