Großer-Tiger und Christian
›Darum geht es ganz schnell, und in ein paar Stunden ist es in Peking.‹
Der Beamte war freundlich, und er fragte süß wie Zucker, ob wir die jungen Exzellenzen seien, und Großer-Tiger erwiderte,
dass er zwei unnütze Bengel vor sich sehe. So hinterließen wir überall den Duft der Bescheidenheit.
Dann sind wir in den Yamen zurückgeritten, wo wir in einem Zimmer wohnen, zwei Türen neben dem Marschall, und er hat noch
Licht, weil er auch einer ist, der Tagebuch schreibt. Glück ist heute bei uns, aber morgen zieht er um, und dann wohnt er
dort, wo die neugebauten Häuser für die Lastwagen sind, denn er ist zum Oberaufseher aller Automobile ernannt worden, die
dem Gouverneur gehören. Wui-Hung-Wen hat gesagt, es macht nichts, wenn Glück nicht zum General Wu zurückkehrt, weil erihm einen Brief schreibt, wo alles drin steht, und dass man Glück in Urumtschi notwendig braucht.
Kao-Scheng ist schon fort, und zwanzig Soldaten sind mit ihm geritten. Sie müssen eilig an die Grenze, weil der Marschall
es befiehlt, denn man weiß nicht, was die Räuber ohne Dampignak anstellen, und vielleicht sind die Karawanenstraßen jetzt
nicht mehr sicher, sondern unsicher, und es ist ein Elend. Kao-Scheng hat einen Orden gekriegt, weil er ein Soldat des Marschalls
ist. Er hat ihn angehängt und gesagt, man sieht, dass der Staat gut regiert ist.«
Als Christian so viel geschrieben hatte, setzte er sich mit Großer-Tiger und Glück noch eine Weile vor die Tür unter das Vordach.
Der Vollmond wanderte strahlend über die Wipfel der hohen Bäume im Park, das Rauschen der Stadt war verstummt, und nur aus
der Gegend, wo die Gemüsebauern wohnten, kam vereinzeltes Hundebellen. Dann knurrte der Pudel, aber Christian streichelte
ihm den dicken Kopf und sagte: »Hund sei still, der Tupan schreibt Tagebuch.«
»Beim letzten Vollmond waren wir am Edsin-Gol«, sagte Großer-Tiger nachdenklich.
Glück seufzte: »So ist es immer und überall. Wenn es wo zufriedene Heiterkeit gibt, gleich heißt es: ›Ihr müsst gehen‹.«
»Das hat Ungemach gesagt«, erinnerte Großer-Tiger.
»Er sagte aber auch«, fuhr Christian tapfer fort, »dass man nicht aus den Tränen herauskäme, wenn man wegen ein bisschen Abschied
gleich weinen wollte.«
»Wir weinen ja nicht«, knurrte Glück und fuhr sich über die Augen.
Dann waren sie still. Über den Rasenplatz wehte der Nachtwind, die Gräser blinkten im Mondlicht, und Glück bat leise: »Sagt
mir noch einmal das Gedicht vom Prinzen Tschao, damit ich es lerne und eine Erinnerung an euch habe.«
Da sagte Großer-Tiger das Gedicht, und nachher sagte es Christian auch.
»Jetzt kann ich es«, sagte Glück, »und ich danke euch. Ihr habt mir viel Freude bereitet, aber diese ist die größte und sie
wird dauern.«
Sie kehrten in das Zimmer zurück, und sie schliefen lange.
Als Christian und Großer-Tiger aufwachten, schien die Sonne, aber der Platz neben ihnen war leer. Glück hatte sie beim Morgengrauen
verlassen.
Vierundfünfzigstes Kapitel, in dem der alte Großvater das Schlusswort spricht
»Heute ist der sechzehnte Tag des dritten Monds, und wir sind traurig aufgewacht, weil Glück weg war. Oder soll man nicht
traurig sein, wenn man fortwährend Abschied von seinen Freunden nehmen muss und nicht weiß, ob man sie wiedersieht? Zuerst
saßen Großer-Tiger und ich auf dem Kang, und wir weinten ein bisschen, und nachher machten wir auch nichts anderes, denn wir
waren allein, und da kann man es tun. Eigentlich wollten wir gar kein Frühstück haben, aber es kam ein blauseidener Diener
und hat uns geholt. Er führte uns in das Zimmer des Marschalls, und da saß er mit dem General Wui-Hung-Wen. Sie warteten,
dass wir mit ihnen Tee trinken sollten und Schmalzgebackenes essen, oder Kastanien, oder süße Yamwurzel, oder Sachen, die
wir nicht kannten. Es gab auch Taubeneier. Wir aßen von allem ein bisschen, und der General hat gefragt, was uns bis jetzt
am besten gefallen hat. Großer-Tiger sagte gleich, es ist die Musik, die uns der Pater Hillbrenner geschafft hat. Da lachte
der General, bis ihm die Tränen kamen, und er hätte eine Rückenlehne am Sessel gebraucht, aber es war keine vorhanden. Als
er hintenüberfiel, rief er: »Ihr seid meine Freunde«, und nachher erzählte er dem Tupan von ›Hänschen klein‹ und wie sie alle
gesungen hatten. Da lachte der Tupan auch, aber nur ein bisschen, und er sagte, der Pater sei nun einmal ein großer Freund
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