Großmutters Schuhe
anfängt mit seinen Anekdötchen. Warum stehe ich nicht einfach auf und gehe? Ich will die alle ohnehin nie mehr sehen. Aber ich sitze da wie ein Trottel. Recht geschieht mir, wenn ich den ganzen Schwachsinn anhören muss. Vielleicht hab ich ja Glück und einer fällt um und muss ins Krankenhaus gebracht werden, oder es gibt einen Stromausfall und ich kann unauffällig verschwinden. Sogar ein nettes kleines Erdbeben mit anschließender Panik wäre wunderbar. Das Einzige, was ich tun kann, habe ich getan. Ich habe das Handy wieder eingeschaltet, im Normalfall müsste es also bald klingeln und mir einen zwar nicht starken, aber dafür bürgerlich akzeptablen Abgang ermöglichen, komplett mit der leicht verlegen beinahe grinsenden Entschuldigung, mit der man früher rausgegangen ist, wenn einem ein Furz entschlüpft war. Das muss ich der Gitti sagen, die lacht sich kaputt. Das Handy als Furzersatz. Darüber könnten die Beratertypen ein Wochenendseminar abhalten. Mit praktischen Übungen. Bestimmt gibt es auch Fürze als Klingeltöne. Warum zum Teufel ruft mich niemand an? Ich hätte das vorher arrangieren müssen. Eberhard hat zum dritten Mal an sein Glas geklopft, geräuspert hat er sich auch ausgiebig. Und schon geht’s los. Er hat es anscheinend gelernt, seinen Bauch als Resonanzkörper zu nutzen. So sonor hat er früher nie geklungen. Ich muss ihn nach seinem Stimmbildner fragen, ich wüsste einige Leute,die ich zu ihm schicken könnte. Genau genommen unser gesamtes Verkaufspersonal. Man braucht doch nur zu schauen, wie die Damen jetzt an seinen Lippen hängen. Pass auf, Eberhard, wenn das so weitergeht, hast du Lippen ärger als ein Punk, denn diese Damen wiegen gewaltig mehr als eine Reihe silberner Ringe. Nur die Kleine mit dem köstlichen Hintern ist unbeeindruckt. Die wirft den Kopf zurück wie ihre Großmutter – nein, Urgroßmutter. Da hat etwas eine Generation übersprungen – oder sogar zwei. Ein Pferdezüchter würde sagen: Rasse. Ja, genau. Kein Zufall, dass ich an Pferde denken muss, sie wirft den Kopf zurück wie ein Araberfohlen auf der Weide.
Jetzt ist bestimmt eine Weile Ruhe da drinnen« , meldete Lisa. »Eine Anekdote zieht doch wenigstens drei andere hinter sich her. So nach dem Motto: Weil wir gerade davon reden …«
Bärbel ließ sich auf einen Hocker fallen, stützte die Ellbogen auf ihre Knie. Alban lehnte neben ihr an der Wand. Hanka drehte die Strähnchen, die aus ihrem hochgesteckten Haar fielen, zu Stoppellocken. Lisa schlüpfte aus den Schuhen und stand barfuß auf den Fliesen.
»Du wirst dich verkühlen« , sagte Bärbel. »Pass nur auf, davon kriegst du Nierenbeckenentzündung.«
Hanka lachte. »Spricht Babuschka.«
Bärbel drohte ihr mit einem Finger.
Veronika, 25
Wie lange müssen wir noch bleiben? Bisher ging’s ja noch mit den Buben, aber demnächst werden sie ernsthaft Krach machen, es dauert schon viel zu lange für sie. Und dann bin garantiert ich schuld. Andreas sagt zwar, dass es ihm völlig gleichgültig ist, was die heilige oder unheilige Familie von ihm oder seinen Kindern denkt, vielleicht glaubt er sich selbst, es stimmt trotzdem nicht. An der Familie wird gemessen, was sich schickt und was nicht, wer draußen steht, muss die Regeln strenger einhalten als die, die fraglos dazugehören. Das ist nun einmal so.
Ich habe mich gefürchtet vor der alten Dame, obwohl sie eigentlich immer freundlich war zu mir. Gar nicht von oben herab. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn sie ihre Überlegenheit ins Spiel gebracht hätte. Dagegen hätte ich mich wehren können. Einmal war ich allein bei ihr, zu ihrem Geburtstag, Andreas war bei einer Tagung irgendwo in Deutschland, warum kann ich mir die Namen der Städte nicht merken, mit denen ich keine Bilder verbinde? Ich bin mit einem bunten Strauß hingegangen, Tulpen, Freesien und weiße Narzissen, obwohl Andreas gesagt hatte, ich könnte genauso gut einfach Blumen schicken lassen, aber das wäre mir nicht richtig vorgekommen, es wäre ja auch feige gewesen, und ich wollte mir selbst etwas beweisen. Die alte Dame hat mich umarmt, richtig umarmt, nicht diese ekelhafte Luftküsserei an den Wangen vorbei, wie es Stefanie und Friederike immer machen, hat mich in die Küche mitgenommenund die Blumen versorgt, dann hat sie die Espressomaschine auf den Herd gestellt. Marie war nicht da an dem Tag, ich weiß nicht, war sie einkaufen oder was immer, auf jeden Fall war es gut so. Wir saßen zusammen im Erker, sie erkundigte sich
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