Großmutters Schuhe
nach meiner Arbeit, es schien sie wirklich zu interessieren. Als sie mir den Teller mit dem Mohnstrudel reichte, sagte sie, sie an meiner Stelle würde unbedingt versuchen, Maries Backgeheimnisse zu ergründen, es wäre eine der vielen Unterlassungen in ihrem Leben, dass sie das versäumt hätte, und jetzt sei es eindeutig zu spät. Maries Mohnstrudel sei sozusagen ein Vermächtnis für kommende Generationen. Stell dir einmal vor, jeder Mohnstrudel ein Denkmal, sagte sie, oder wenigstens ein Souvenir. Gerüche lösten ja ziemlich verlässlich Erinnerungen aus, sie fände es schön, wenn man beim Duft von warmem Mohnstrudel an sie denken müsste. Beim Abschied nahm sie meine beiden Hände in ihre. Du wirst es nicht leicht haben mit Andreas, sagte sie, es ist viel Bitterkeit in ihm, daran sind wir alle mit schuld, ich jedenfalls war viel zu sehr mit meinem eigenen Kram beschäftigt und ziemlich blind und taub. Sie lachte. Eigentlich habe sie erst zuhören gelernt, als es mit dem Hören gar nicht mehr so gut ging. Es wird viel Geduld brauchen, sagte sie, die Mauer seines Schweigens zu durchbrechen, er habe auch genügend Stoff gesammelt, um jede Bresche schnell zu reparieren, aber es sei der Mühe wert. Manchmal, wenn er mit den Buben spielt, kommt es mir vor, als würde er jeden Moment die Türen und Fenster aufreißen.
Drei Tage vor ihrem Tod dachte ich noch, morgen oder nächste Woche gehe ich sie besuchen.
Jetzt fangen die Buben an, Fratzen zu schneiden. Sonst schimpft Andreas, wenn sie das tun. Aber heute kommt es mir fast so vor, als ob er grinst. Heißt das, dass er wirklichnicht erwartet, dem Clan vorzuführen, wie gut erzogen seine Kinder sind? Wie könnten sie das auch sein, mit mir als Mutter. Und nebenbei lege ich Wert auf die Feststellung, dass ich gar nicht die Absicht habe, wohlerzogene Knaben zu liefern. So. Das musste einmal klargestellt werden. Und zwar in aller Deutlichkeit. Ich weiß, was aus braven Kindern wird. Und aus den Müttern braver Kinder.
Stefanie schaut immer wieder zu mir herüber mit Blicken, die ich nicht deuten kann. Vielleicht ist das gut so. Eigentlich sieht sie gar nicht so aus, wie Andreas sie geschildert hat, das eine und einzige Mal, dass er von seiner Kindheit geredet hat. Ich weiß noch immer nicht, ob es an mir liegt, an meiner Unfähigkeit, die richtigen Fragen zu stellen, oder ob er sich den Fragen nicht stellen kann. Oder will. Manchmal schüttelt es mich vor Angst, dass sich sein Schweigen über meine Liebe zu ihm legt und sie erstickt. Komisch, es heißt doch oft, dass einer eine gläserne Wand aus Schweigen aufbaut, an der alles abprallt, Andreas’ Schweigen ist anders, das ist ein Knebel oder nein, ein Sack aus dickem Plastik, unter dem man erstickt. Vielleicht sollte ich mir zum Geburtstag ein Messer wünschen, so ein scharfes, spitzes, mit dem ich das Plastik zerschneiden kann. Mein Opa hatte ein Messer, ein Schweizer Offiziersmesser, auf das er sehr stolz war, an dem gab es sogar ein Gerät, mit dem man Steinchen aus Pferdehufen lösen konnte, nicht, dass mein Großvater je einem Pferd in die Nähe gekommen wäre. Das Ding hatte auch einen Namen, den hab ich natürlich vergessen. Es tut mir so leid, dass er die Buben nicht erlebt hat. Er wäre ein Großvater gewesen wie aus dem Bilderbuch, mit Bart und Meerschaumpfeife. Was für riesige Hände er hatte, rau wie altes Leder, wenn er mich an der Hand führte, war die Welt in Ordnung.
Lang nach seinem Tod ist seine Joppe immer noch im Vorhaus gehangen. Wie oft hab ich die Nase hineingesteckt im Vorbeigehen. Mit der Zeit ist der Geruch immer schwächer geworden. Als ich zum ersten Mal aus dem Internat nach Hause kam, war die Joppe weg. Ich könnte gar nicht sagen, wonach sie gerochen hat. Ein bisschen nach Heu, nach Tabak, nach Holz … Nach Trost hat sie gerochen.
Eigentlich wachsen die Buben ohne Großeltern auf. Das ist Marie gegenüber ungerecht, ich glaube, sie liebt die Kinder, sie kann nur nichts anfangen mit ihnen, sie bemüht sich zu sehr.
Bemüht sich zu sehr. Sollte sich mehr bemühen, sagten die Lehrerinnen zu meiner Mama. Sie könnte durchaus mehr leisten, erklärten sie, wenn sie sich nur ein wenig bemühen würde. Zu sehr und zu wenig, kommt das aufs Gleiche heraus?
Ich glaube, Andreas wartet darauf, dass ich aufstehe und sage, wir müssen gehen. Nein, Andreas, wenn du gehen willst, musst du es schon selbst sagen. Nicht meinetwegen, deinetwegen, Andreas. Ich bin nicht deine Ausrede.
Weißt du was,
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