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Großstadt-Dschungel

Großstadt-Dschungel

Titel: Großstadt-Dschungel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Mlynowski
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gezwungen, mein Versteck zu verlassen. Sobald wir wieder auf unseren Plätzen sitzen, greift er nach meiner Hand und malt mit seinem Finger einen Kreis auf die Innenfläche. Und noch einen. Und einen dritten. Er drückt meine Hand und umklammert sie noch fester.
    Okay, er ist also liebevoll. Sein Griff ist vielleicht etwas zu zupackend, aber, wenn ich erinnern darf, er ist immer noch Jonathan Gradinger. Solange er nie wieder in der Öffentlichkeit singt. Solange er überhaupt nie wieder singt, können wir ein langes, glückliches Leben zusammen führen.
    Ich erwidere den Händedruck. Ms. Jackie Gradinger. Mrs. Jonathan Gradinger.
    Plötzlich werden unsere schön auf den Armlehnen postierten Hände getrennt. Und die nächsten Kreise werden auf meinem Oberschenkel gezeichnet.
    Wow.
    Mal langsam, Cowboy.
    Sein Daumen kommt jener Zone gefährlich nah, die Cupid-Autoren mit „Tiefe des Schoßes“ umschreiben würden.
    Auf der Bühne stirbt gerade ein Held. Wir sind mitten in einem Lied.
    Warum singt er nicht mit? Sing, Jonathan, sing!
    Ich schiebe seine forsche Hand runter Richtung Knie.
    Er fängt an, mein Ohr zu küssen.
    Die grauhaarige Dame schluchzt leise. Ihre Schultern beben ein wenig.
    „Du bist so sexy“, haucht er mir feucht ins Ohr.
    Bitte. „Guck dir das Stück an.“
    „Ich habe es schon gesehen“, flüstert er. „Ich gucke lieber dich an.“
    Dann hättest du mich wie jeder normale Mensch zum Essen einladen müssen.
    Er fängt an, meinen Nacken zu küssen.
    Ich winde mich aus der Umklammerung.
    Er legt seine Hand zurück auf meinen Oberschenkel.
    Auf der Bühne besingen sie die wahre Liebe.
    „Wahre Liebe – passt wie ein elastischer Handschuh“
, singt Jonathan mit.
    Wenn Jon doch bloß mit Zement ausgegossene Fäustlinge trüge, dann würde er seine Hände vielleicht bei sich behalten. Wahre Liebe? Was zum Teufel ist das?
    Bis zum Ende der Vorstellung spielen wir weiter Tauziehen. Wenn ich seine Hand wegschiebe, schlängelt er sich an meinen Nacken. Wenn ich meinen Kopf bewege, geht er wieder zum Oberschenkel. Dieses Arschloch verdient einen Oscar für Penetranz, wenn nicht für „Schlechtestes Date“.
    Nach dem Stück hält er mir erneut die Tür auf, nimmt meinen Arm, als wir aus dem Theater gehen – wieder ganz der perfekte Gentleman. Vielleicht sage ich die Hochzeit noch nicht gleich ab.
    „Hat es dir gefallen?“ fragt er.
    „Sehr“, antworte ich.
    Wir steigen die Treppen hinab, erreichen die Straße, und Jon legt seinen Arm um meine Taille. „Es ist unfassbar, mit welchen Problemen die Menschen konfrontiert sind: Obdachlosigkeit, Armut, Drogenmissbrauch. Es ist wirklich tragisch“, kommentiert er.
    Ein Mann in abgerissenen Jeans und einem schmutzigen grünen Sweatshirt stellt sich uns in den Weg. „Haben Sie etwas Kleingeld?“ fragt er.
    Jon ignoriert ihn.
    Um den ganzen Abend wieder gutzumachen, muss er so langsam an einen riesigen Dreikarater denken. Absichtlich betont langsam hole ich einen Zehn-Dollar-Schein aus meinem Portemonnaie und werfe ihn in die Büchse des Bettlers.
    Ich will ihm eigentlich nur fünf geben, aber ich habe nur zehn. Einen Obdachlosen kann man ja nur schlecht um Wechselgeld bitten, und ich will hier ein Zeichen setzen.
    „Sehr nobel von dir“, sagt Jon abfällig.
    Auf der Fahrt machen wir ein wenig Small Talk.
    „Ich habe gehört, dass sie in New York die Preise für ‚Das Apartment‘ gesenkt haben, damit mehr Menschen es sehen können.“ Wendy hat mir das erzählt.
    „Warum sollten sie das tun?“
    Alles klar.
    Vor meinem Haus parkt er den Wagen. „Lass uns eine Minute draußen sitzen.“
    „Okay“, stimme ich zu. Ich weiß so gut wie jede andere Frau, dass das in Wirklichkeit heißt: „Lass uns ein bisschen fummeln.“ Einverstanden, ich gebe zu, mich nicht ganz konsequent zu verhalten. Ich habe mich an dieser Stelle einfach noch nicht hundertprozentig entschieden, ihn in den Wind zu schießen. Auf der Plusseite steht immerhin: Er
ist
Jonathan Gradinger,
Dr
. Jonathan Gradinger. Er fährt einen BMW, er ist scharf, er ist älter als ich, und er hat noch fast alle Haare. Auf der Minusseite steht, dass er ein humorloser Torfkopf ist, der niemals begreifen wird, welche Ironie darin liegt, für ein Theaterstück über Obdachlose zweihundert Dollar auf den Tisch zu legen.
    Dieses Mal hält er mir nicht die Wagentür auf. Wir sitzen auf einer Bank vor dem Apartmentgebäude, in dem ich wohne. Plötzlich spüre ich eine unglaubliche Feuchtigkeit

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