Großvater 02 - und die Schmuggler
Sein ganzes Gesicht war schmerzverzerrt.
Mina sah es und wusste sofort Bescheid. Es war das Herz.
Sie packte seinen Arm; aber seine Hände waren ja auf den Rücken gebunden, das hatte sie beinahe vergessen. Er fiel schwer über sie zur Seite, seine Beine schienen ihn nicht mehr tragen zu können. Er stöhnte röchelnd. Mina zerrte ihn verzweifelt hinter sich her, wie einen Sack Kartoffeln.
»Rein!«, schrie sie. »In die Höhle!«
Die letzten zehn Meter versagten seine Beine komplett den Dienst. So schleifte Mina einen halb bewusstlosen Großvater in die zweite Höhle, während Gabriel und Marcus, die jetzt beide im Höhleneingang standen, verwirrt zusahen.
»Das ist ein Ernstfall!«, rief Mina Marcus zu. »Ein Ernstfall!!!«
Da wusste er Bescheid. Sie hatten sich ja darauf geeinigt. Im Ernstfall hatte Mina das Kommando.
Hinein in die zweite Höhle. In Sicherheit.
Gabriel trug immer noch die viel zu schwere russische Maschinenpistole.
Vor der dritten Höhle war die Verwirrung der ersten Minute inzwischen in verbissene Wut übergegangen. Der Anführer der vier Gangster begann, dem absurden kleinen Jungen nachzulaufen, der sich die Kalaschnikow gegrapscht hatte und der jetzt mit der Waffe im Arm vor der zweiten Höhle stand. Der Mann lief auf die zweite Höhle zu, auf dem schmalen Felsenpfad, und hielt eine Pistole in der Hand.
Da drückte Gabriel ab.
Es kam eine heftige kurze Feuergarbe aus der Kalaschnikow, die er kaum tragen konnte.
Die Schüsse gingen schräg nach oben in die Luft, und der Rückstoß warf Gabriel nach hinten, sodass er sich mit einem Plumps auf den Hintern setzte. Es tat weh, aber er ermannte sich und rief, jetzt mit ziemlich kräftiger Stimme: »Ergebt euch!«
Der Mann mit dem Totenkopfgesicht war vor den anderen gelaufen. Er schreckte zurück, als das Krachen der Salve ihm entgegenschlug, rutschte ab und war drauf und dran, über die Felskante abzustürzen. Er klammerte sich fest und zog sich mühsam wieder nach oben.
Wörter kamen aus seinem Mund. Wahrscheinlich Russisch.
Gabriel feuerte noch eine Salve ab, auch diesmal schräg nach oben. Dann fühlte er, wie Marcus ihm die Waffe aus der Hand nahm und ihn nach hinten und in die Höhle zog, und plötzlich waren sie alle in der Höhle. Gabriel rieb sich den schmerzenden Hintern. Sie horchten intensiv, aber es war nichts zu hören. Da steckte Marcus den Kopf hinaus und spähte nach Nordwesten, die Felswand entlang.
»Er ist verduftet«, sagte er keuchend. »Du hast ihn verscheucht.«
Die Sonne unterhalb des Horizonts, aber noch ziemlich hell. Sehr still in der zweiten Höhle. Dann war es, als fiele Marcus gerade etwas noch Wichtigeres ein.
»Gabriel«, sagte er. »Weißt du, dass du meinem Bären das Leben gerettet hast? Wenn du dir nicht die Knarre hier geschnappt hättest, hätten sie meinen Bären erschossen!«
»Meinst du wirklich?«, sagte Gabriel. »War das dein Bär?«
»Großen Dank«, sagte Marcus. »Großen Dank.«
»Und die Schlange war meine«, sagte Gabriel.
Großvater lag in der Höhle und atmete schwer, aber sein Gesicht war nicht mehr schmerzverzerrt. Mina hatte ihm das Klebeband mit einem Stein von den Handgelenken gefeilt, und jetzt massierte sie die Gelenke, damit wieder Leben in seine Hände kam.
»Was war denn los?«, fragte er.
»Alles unter Kontrolle«, sagte sie. »Gabriel hat die Knarre und schießt dann und wann, und sie wirken eingeschüchtert.«
»Herrgott«, sagte Großvater. »Die Kinder können doch damit gar nicht umgehen …«
»Sie tun es«, sagte Mina. »Unter meinem Befehl. Es ist der Ernstfall.«
»Aber es ist unverantwortlich … von mir …«
»Der Ernstfall«, sagte Mina.
»Meinst du?«, sagte Großvater.
»Wie fühlst du dich?«, fragte Mina und betrachtete ihn sorgenvoll, wie er noch immer auf dem Boden der Höhle lag.
»Besser«, sagte Großvater. »Es war ein plötzlicher Schmerz im Herzen. Ich dachte schon, es wäre vorbei. Aber dass du es geschafft hast, mich hier hereinzuschleppen!«
»Naja«, sagte Mina. »Es war der Ernstfall, und Marcus und ich hatten uns geeinigt, dass im Ernstfall ich diejenige sein sollte, die das Kommando hat.«
»Ist es … Ist es wirklich der Ernstfall?«
»Es ist der Ernstfall«, sagte Mina ruhig.
Dann wurde es ganz still. Alle warteten. Im Höhleneingang Marcus und Gabriel; Marcus hatte die Waffe übernommen.
Bei der dritten Höhle war niemand zu sehen.
»Was haben die vor?«, fragte Gabriel.
Keine Antwort.
Eine halbe Stunde verstrich.
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