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Grote, P

Grote, P

Titel: Grote, P Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wein des KGB
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erwischte, wie er an der Wohnzimmertür gelauscht hatte. Es war allerdings richtig gewesen mitzuhören, denn nur so hatte er seine Abschiebung ins Internat verhindern können.
    Die Frau in der Uniform des Wachpersonals des Ministeriums lächelte Martin zu, als sie die Tür für ihn öffnete. Er hätte diese Frau um die vierzig eher in der Fertigungshalle für Leuchtstoffröhren oder am Steuer eines Traktors erwartet, aber nicht als Wachpersonal. Was ihn zu diesem Vergleich brachte? In Gedanken zuckte er mit den Achseln. Siewar Arbeiterin, etwas fehlte ihr, er wusste es nicht genau, jedenfalls gehörte die Frau nicht hierher und nicht in die beige-weinrote Uniform mit Krawatte, nicht hinter den winzigen Schreibtisch, Ausweise kontrollierend und den Summer für den Mitarbeitereingang betätigend. Er betrachtete ihre Hand, als sie auf den Summer drückte. Diese Hand konnte zupacken, es war die einer Landarbeiterin, wie er sie aus Bordeaux kannte. Da war wieder das Gefühl, das ihn seit der Landung in Bukarest zwischen dem IKE A-Mast und dem ostzonenblau gestrichenen Flughafengebäude mit NAT O-Draht auf dem Dach begleitete, dass die Dinge nicht zusammenpassten. Das Gefühl verstärkte sich.
    Kurz vor dem hohen schmiedeeisernen Zaun blieb Martin stehen und sah zu den hohen Fenstern der Fassade des Ministeriums hinauf. Ob man auch ihn beobachtete? Sofias Hinweis war eindeutig, sie waren abgehört worden. Ihr Chef misstraute seinen Mitarbeitern, und wie es den Anschein hatte, nicht grundlos. Sofia hatte sich keinesfalls im Sinne der offiziellen Politik geäußert. Während er das Bauwerk im habsburgischen Stil des Fin de Siècle musterte, aus der Blütezeit dieser Stadt um 1900, versuchte er, sich an den Geruch des Gebäudes zu erinnern. Es hatte nach Desinfektionsmitteln, durchgetretenen Teppichen und Staub gerochen, nach alter Farbe und nach unausgesprochenen Worten. Der Gedanke schien ihm absurd, Worte besaßen schließlich keinen Geruch, und doch hatte er heute zum ersten Mal den Eindruck, dass es so war. Verstaubte Worte, lange nicht hervorgeholt, in alten Kisten oder Kartons aufbewahrt, wie die Fotos, die er auf dem Dachboden der Großeltern entdeckt hatte. In einem Raum hinter den blinden Scheiben im Souterrain vermutete er die mitlaufenden Tonbänder, viele nebeneinander, ihre Spulen drehten sich, wie sie es in Paris und Berlin taten, dort längst elektronisch. In diesen Kellerräumen hatten sie zu Zeiten der Diktatur gestanden, während der Wende hatte man sie sicherheitshalber weiterlaufenlassen, und auch nach dem Neuanfang (von was eigentlich?) waren sie allem Anschein nach nicht abgestellt worden. Unsinn, dachte er und sah die rumänische Flagge und die der Europäischen Union schlaff neben der NAT O-Flagge in der Nachmittagshitze über dem Haupteingang hängen. Nein, keineswegs Unsinn, und er suchte nach Kameras. Eine war direkt auf ihn gerichtet   ... oder auf die Menschenmenge draußen, vor dem Zaun?
    Polizeiwagen blockierten die Straße, Uniformierte den Gehweg, winkten Passanten durch und diskutierten mit den Demonstranten, viele in blauer Arbeitsmontur. Martin blieb hinter dem Zaun und vergewisserte sich, dass er nicht unversehens in ein Handgemenge geriet. Als er die Kamera zur Hand nahm, um ein Foto zu machen, schoss ein Wächter mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Martin ließ sich nicht beirren, machte das Foto und fuhr den Wächter barsch auf Englisch an:
    »Ich war eben beim Minister und mache nur ein Foto vom Gebäude.« Ton und Haltung ließen den Wächter zurückweichen. Martin hatte es nach wenigen Tagen begriffen: Auf hartes, rüdes Verhalten wurde reagiert. War das immer noch auf die Diktatur zurückzuführen? Da musste sich nach zwanzig Jahren doch was geändert haben.
    Gegen wen oder wozu die Demonstranten sich versammelt hatten, blieb ihm verborgen, die Transparente waren für ihn unverständlich. Er könnte Sofia fragen, wenn sie sich an jenem Ort träfen, ». .. wo die Wände keine Ohren haben«. Er ging weiter und starrte hilflos auf den Verkehr, der aus allen vier Himmelsrichtungen kam und sich auf der Piat¸a Universităt¸ii zusammenballte. Die Fahrzeuge hatten sich ineinander verkeilt, BMWs kämpften zäh um jeden Millimeter, Mercedes-Geländewagen verbanden sich mit Dritte- und Vierte-Hand-Toyotas und -Renaults zu einem Blechbrei, während der Strom der von außen dazustoßenden Audis, riesigen schwarzen Hondas, abgeschabten Citroënsund Wartburgs oder fabrikneuen Tuaregs weiter

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