Grounded (German Edition)
geringste Ahnung, wer meine Schwester eigentlich war.
Obwohl, das stimmte so natürlich auch nicht. Ich wusste viel über Ell. Sie war Frühaufsteherin. Sie war das mit Abstand cleverste Mädchen, das ich kannte. Sie mochte Erdbeeren und sie hasste Kiwis, ihre Kochkünste waren lebensgefährlich und Sport war ein Fremdwort für sie. Früher hatte sie gern gezeichnet, aber seit Mums Tod rührte sie Papier und Bleistift nicht mehr an.
Und doch schien dies nur ein Bruchteil dessen zu sein, was es über meine Schwester zu wissen gab. Es war, als gäbe es ein ganzes Universum in ihr und um sie, von dem ich nicht die geringste Ahnung hatte.
Warum? War ich zu unaufmerksam gewesen?
Hätte ich mehr von ihr gewusst, wenn ich mehr auf sie geachtet hätte? Oder gab es einfach Dinge, die man als Bruder nicht wissen konnte?
„Wann hast du--?“ Ich unterbrach mich selbst. Was sollte sie mir schon auf so eine Frage antworten? Wann hatte ich denn aufgehört ein Junge zu sein und war zum Teenager geworden? Dieser Gedanke erschien mir absurd. Ich hatte nie aufgehört ein Kind zu sein.
Manchmal war ich heute mehr Kind, als ich es früher je hätte sein können.
„Wann hab ich was?“
„Schon gut. Vergiss es.“
„Sag.“
„Nein. Themawechsel.“
„Boah, jetzt sag!“
Ich seufzte. Vor meinem geistigen Auge tauchten zwei Bilder auf, die wie zwei Fotos auf einem Tisch nebeneinander lagen. Eines zeigte Ell mit ihrer Schultüte. Auf dem anderen sah ich das Mädchen mit den schwarz gefärbten Haaren, den kajal-umrandeten Augen und dem Babydoll-Kleidchen, das sich eifrig die Wimpern tuschte. Wie hatte das eine zum anderen werden können? Und wann genau war das passiert?
„Ich … bin einfach überrascht, wie sehr du dich über die Jahre entwickelt und verändert hast. Und wie wenig ich davon mitbekommen habe.“
„Aha.“
„Als wir klein waren, war ich sicher, dass ich alles über dich weiß. Heute hat es manchmal den Anschein, als wüsste ich eigentlich sehr wenig.“
„Ist doch normal, oder? Als Kinder hatten wir ja kaum Geheimnisse voreinander.“
„Und heute schon?“
„Erzählst du mir immer alles, was du denkst und tust? Ich denke nicht. Bei mir ist es nicht anders. Ich will gar nicht, dass du alles weißt, was in meinem Leben passiert oder was ich so denke.“
„Und warum nicht?“
Sie hob den Kopf und musterte mich mitleidig, ungläubig und genervt gleichzeitig. Wie einen Schwachsinnigen. „Dumme Frage. Weil du es nicht wissen willst. Weil es mir peinlich ist. Oder weil es dich schlichtweg nichts angeht. Jeder braucht doch seine Geheimnisse. Privatsphäre und so.“
„Aber warum? Früher hatten wir nie Gehei mnisse voreinander und haben uns immer alles erzählt. Warum heute nicht mehr?“ Ich war mir relativ sicher, dass ich keine nennenswerten Geheimnisse vor meiner Schwester hatte. Gut, ich erzählte ihr nicht alles, aber würde sie fragen, würde ich ihr ohne zu zögern alles sagen. Oder nicht?
„Boah Danny, bist du irgendwie behindert? Soll ich dir etwa erzählen, wann ich meine Tage habe? Oder wenn ich von einem zu engen BH wunde Brustwarzen kriege? Oder ob irgendein Typ gut fingern kann?“ Ich knurrte unwillig. Ells direkte Art war etwas zu viel des Guten. „Das gehört doch zum Erwachsenwerden dazu. Es gibt Dinge, mit denen muss ich eben alleine fertig werden. Man kann sein Leben ja nicht vollständig mit jemand anderem teilen. Außerdem gibt es auch genug Sachen, die ich von dir nicht weiß und – nimm‘s nicht persönlich, du weißt, ich mag dich – auch gar nicht wissen will, mal im Ernst.“
„Was für Sachen meinst du? Ell, du kannst mich immer alles fragen.“
„Ach ja. Und du würdest auf alles antworten?“
„Natürlich würde ich das.“ Wahrscheinlich schon.
„Wie du nichts kapierst, es ist unfassbar! Es gibt Dinge, die kann man nicht einfach so jemand anderem erzählen. Und schon gar nicht, wenn man verwandt ist und sich gut kennt.“
„Das glaube ich nicht.“ Was war an Offenheit verkehrt? Wenn man sich vertraute, gab es nichts, was einem peinlich sein musste. Oder? Gut, wunde Brustwarzen würden sicherlich niemals zu meinen Lieblingsthemen zählen, aber wenn es das war, was meine Schwester beschäftigte, sollte sie damit zu mir kommen können, wenn sie Beistand benötigte oder Jemanden, dem sie sich mitteilen konnte.
„Du glaubst also, man kann sich einfach so immer alles sagen? Egal, was?“ In Elenas Stimme schwang eine leise Herausforderung mit.
„Ja“,
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