Grounded (German Edition)
Schlafenlegen auf dem Sofa vertrieben. Meine Schwester konnte die bunten Bilder und das Gequassel des Fernsehprogramms meist nicht lange ertragen und so verbrachten wir einen Großteil unserer Zeit damit, aus dem Fenster oder an die Wand zu starren. Wir sprachen nur wenig; ich hatte nichts gegen die Stille einzuwenden und Ell war zur Zeit kaum in der Lage, sich auf so profane Dinge wie Sprechen oder das Verarbeiten von Gehörtem konzentrieren.
Unsere Tage waren leer, im wahrsten Sinne des Wortes leer . Dennoch, die Tage waren das kleinste Problem. Allmählich wurden sie sogar wieder besser. Ell konnte jeden Tag etwas mehr von dem dummen Geschwätz im TV ertragen ohne durchzudrehen und bereits Anfang der zweiten Woche beobachtete ich, wie ein Anflug von Vitalität in ihr Gesicht zurückkehrte.
Problematisch waren – und blieben – die Näc hte. Ich zog mehrfach ernsthaft in Erwägung, professionelle Hilfe einzuschalten. Letzten Endes tat ich es allerdings doch nicht. Es wäre mir wie Verrat an meiner Schwester vorgekommen.
Ell bemühte sich nach Kräften, so war es nicht. Sie strengte sich wirklich an. Jeden Abend versuchte sie es aufs Neue. Und jede Nacht musste sie doch irgendwann wieder kapitulieren. Im Gegensatz zu ihr fühlte ich mich abends immer wie erschlagen. Obwohl ich außer dösen und herumliegen kaum etwas tat, schlief ich auf der Stelle ein, sobald ich mich in mein Bett gelegt hatte. Ich erwachte immer erst dann, wenn Ell unter meine Decke schlüpfte und sich an mich presste, die Haut eiskalt und verschwitzt, die langen Glieder verkrampft und steif, die Wangen nass.
Nur ungern gestand ich mir ein, wie froh ich darüber war, dass Nathalie Verständnis für meine Bitte um Abstand zeigte und sich in diesen Tagen nicht bei uns aufhielt. Wäre sie hier gewesen, hätte Ell sich mir gegenüber niemals so geöffnet und vielleicht wäre am Ende dieser drei freien Wochen ein weiterer Todesfall zu beklagen gewesen.
Der Wendepunkt kam gegen Ende der zweiten Woche. Für mich war es die härteste Nacht von allen, für Ell wahrscheinlich der Luftröhrenschnitt, der sie vor dem langsamen und qualvollen Ersticken rettete.
In dieser Nacht wurde ich nicht von kalten Händen, sondern von Schreien geweckt. Ein markerschütterndes, langgezogenes Geheul sowie ersticktes Gewimmer ließen mich mit klopfendem Herzen im Bett hochschrecken. Die Laute ließen mir das Blut in den Adern gefrieren, meine Lunge zog sich zusammen, sodass ich kaum atmen konnte. Mein Puls raste. In Sekundenschnelle war ich aufgesprungen, hatte Licht gemacht und war bei Ell, am anderen Ende des Flurs.
Meine Schwester kauerte bei Festbeleuchtung auf dem Fußboden, die Arme um den Kopf geschlungen, das Gesicht an Knie und Ellenbogen gepresst.
„Nein, nein, oh nein … ich will nicht!“, schrie sie. Ihre Stimme war schrill, die Hände verkrampften sich zu Fäusten und schlugen auf den nächstbesten Gegenstand in Reichweite, den Bettrahmen, öffneten sich dann wieder und verbargen ihr Gesicht.
„Ell! Ell, ich bin hier. Hey. Ell, beruhige dich, ich bin ja da!“ Ich ließ mich neben ihr auf den Teppich sinken und berührte ihre Schulter, aber sie reagierte nicht. Es lief mir eiskalt den Rücken herunter.
„Oh Gott, nein“, schluchzte sie und verfiel dann in lautes Stöhnen, während sie sich den Kopf hielt. Ihre Finger krallten sich in ihr eigenes Haar. Sie kam mir vor, wie eine Wahnsinnige. Ich versuchte, mich von der unweigerlich aufkommenden Angst, dass sie nun komplett übergeschnappt war, nicht lähmen zu lassen.
„Elena, hörst du mich?“ Ich packte sie etwas fester an der Schulter. Sollte ich einen Arzt anrufen? „Hast du Schmerzen?“
„Ich will nicht sterben“, brachte Ell erstickt und kaum verständlich hervor. Ihr Körper zitterte und sie schlug jetzt mit den Fäusten auf den Boden. Sie war völlig hysterisch. „Du stirbst doch nicht!“
So etwas hatte ich bisher noch nie gesehen. Weder im Fernsehen, noch bei einem echten Menschen. Wie verhielt man sich in so einer Situation? Panisch ging ich im Kopf mögliche Notfallmaßnahmen durch. Gab es eine Tüte in Reichweite, falls sie hyperventilieren sollte?
Ich packte Elenas Handgelenk, aber sie befreite sich aus meinem Griff und setzte einen Meter zurück. Ihr Atem beschleunigte sich besorgniserregend. Tüte. Tüte. Ich sah keine Tüte. Würde im Zweifelsfall auch meine hohle Handfläche helfen?
„Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht!“ Plötzlich tauchte sie zum
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