Grrrimm (German Edition)
Echo der Zweige, die unter meinen Füßen knackten. Endlich erreichte ich die breite Schneise, die den Wald von Vifor von dem Wald, der zu Schiponek gehört, trennt. Dort hatte der Wind den Schnee fast vollständig abgetragen, und ich ging auf dürren Laubblättern, die direkt nach einem Regenguss am Boden festgefroren sein mussten und unter meinen Füßen zersplitterten. In der Mitte der Schneise blieb ich stehen, stellte den Korb ab und packte das Messer fester. Falls es einen Verfolger gab, musste er hier seine Deckung verlassen. Ich beobachtete den Waldrand, immer noch keuchend vor Anstrengung und Angst. Die Atemluft stand weiß vor meinem Mund. Endlich bewegte sich eine kleine Tanne und ein leichtfüßiges, wolfsähnliches Tier kam aus dem Dickicht. Es sah eher arrogant als furchterregend aus, und direkt hinter ihm, am Ende einer langen Leine, die am Halsband des Tieres befestigt war, trat eine dicke Frau mit rotgefärbten Haaren aus dem Wald. Sie trug einen Lammfellmantel, dessen Fell nach innen gekehrt und dessen wildlederne Außenseite mit bunten Folklorestickereien verziert war. Ihre Finger steckten in grünen Wollhandschuhen, die die oberen Fingerglieder frei ließen.
»Ha«, rief die dicke Frau, »da ist ja das Rotkäppchen!«
Das ist noch so ein Nachteil der auffälligen Kopfbedeckung, die ich tragen muss: Selbst in Schiponek und Schostinek hat jedermann von dem Vifor-Mädchen mit der roten Kappe gehört, und manchmal treten wildfremde Menschen auf mich zu und sprechen mich an, als würden sie mich schon seit Jahren kennen.
»Trifft sich hervorragend«, sagte die dicke Frau, »ich habe gehört, was für ein gutes Herz du hast, und dieser süße Spatz hier kann jemanden mit einem guten Herzen brauchen.«
Sie tätschelte das hechelnde Tier an der Leine, das die Berührung ohne irgendein Zeichen von Anteilnahme über sich ergehen ließ.
»Ist das ein Wolf?«, fragte ich.
»Ein Wolfhund. Nicht Wolfshund: Wolfhund ohne ›s‹. Ein Wolfhund ist eine Mischung aus Wolf und Hund. Ein Wolfshund mit ›s‹ ist bloß ein ganz gewöhnlicher Hund, mit dem man Wölfe jagen kann. Zu Hause habe ich noch fünf Stück davon. Unser Verein hat sie aus schlechter Zwingerhaltung befreit. Grauenhafte Zustände. Du machst dir keine Vorstellung. Der Zwinger war nicht nur von oben bis unten vollgeschissen, der Typ hatte auch noch rostige Ölkanister darin gelagert, und mittendrin die Hündin mit ihren bereits fast erwachsenen Welpen. Die Hündin mussten wir gleich einschläfern. War innerlich komplett von Würmern zerfressen und hatte auch noch drei gebrochene Wirbel. Ein Bullterrier. Der Wahnsinnige wollte Kampfhunde züchten, indem er eine Bullterrierhündin mit einem Wolf gekreuzt hat. Na, wie ist es, willst du ihn nicht einmal streicheln?«
Ich kniete mich hin und zauste dem Wolfhund die flauschige Wamme, während er über meine Schulter hinweg gelangweilt in die Ferne spähte. Der Wolfhund war wirklich hübsch. Eigentlich sah er ziemlich genau wie ein sehr dünner Wolf aus.
»Er muss erst wieder das Vertrauen zum Menschen lernen. Aber dann wird das ein toller Hund. Dir würde ich ihn geben«, sagte die dicke Frau.
»Bei uns ist es leider zu eng«, sagte ich. »Außerdem wurde mein Vater gerade von einem Wolf gebissen …«
»Ich habe davon gehört«, antwortete die dicke Frau, »die Leute sprechen ja von nichts anderem mehr als von dem großen roten Wolf. Völlig hysterisch. Kannst du dir vorstellen, wie schwierig es unter solchen Bedingungen ist, Wolfhunde zu vermitteln? Er heißt übrigens Rocky.«
»Geht wirklich nicht …«, sagte ich.
Die dicke Dame drückte mir die Leine in die Hand.
»Findest du nicht, dass dieser schöne, tapfere Hund eine Chance verdient hat? Der ist noch kein Jahr alt und hat bereits den totalen Horror erlebt. Du könntest ihn wenigstens so lange nehmen, bis ich eine passende Pflegestelle gefunden habe. Wenn du ihn nicht nimmst, muss ich ihn bei eBay reinstellen.«
Der Wolfhund war ein hechelndes, sehniges Energiebündel, kein Gramm Fett auf den Rippen, federnde Läufe und eine missmutige Falte zwischen den gelb glühenden Schlitzaugen. Es würde Ärger geben, mit meiner Familie würde es Ärger geben, so viel war einmal sicher, und für alle Fälle steckte in meiner Jackentasche die Visitenkarte der dicken Frau: Ewa Lames, Pfotenfreunde e. V. Schiponek, T. 8 86 10 49.
Andererseits hatte ich mit einem solchen Tier an der Leine schlagartig keine Angst mehr im Wald. Noch
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