Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grrrimm (German Edition)

Grrrimm (German Edition)

Titel: Grrrimm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
Vom Netzwerk:
kramte in seiner Jackentasche nach Tabak und Papier.
    Als Istvan zurückkam, hielt er den Kopf gesenkt, weil er immer noch mit seinem Hosenschlitz beschäftigt war. Deswegen entdeckte er zuerst bloß den umgestürzten Stuhl. Dann hörte er ein Knurren, Klappern und Klatschen, als versuchte jemand einen Propeller anzuwerfen, in dem sich die Beine einer klitschnassen Jeans verfangen hatten, und als er aufschaute, sah er, wie ein Wolf Kimi Topolov rückwärts die Hauptstraße entlangschleifte. Es war der größte und hässlichste Wolf, den Istvan jemals gesehen hatte – räudig und gemein und unter Naturschutz stehend –, und er hatte die Zähne wie ein Fangeisen in Kimis Schulter gegraben. Das Fell des Wolfes war rötlich – mit dicken schwarzen Querstreifen –, und er war absolut riesig – mehr ein Bär als ein Wolf, aber trotzdem so mager, dass man die Rippen zählen konnte. Konzentriert stemmte er die Vorderpfoten gegen den Asphalt, und jedes Mal, wenn er den Kopf senkte und Kimi Topolov mit heiserem Knurren durchschüttelte, um ihm das Genick zu brechen, schlackerten dessen Arme und Beine wie die einer abgeschnittenen Marionette. Istvan dachte nicht an das Gewehr, das immer noch an der Wand lehnte. Brüllend rannte er los, sprang dem schwarz gestreiften Ungetüm auf den Rücken, biss ihm ins dreckige, bitter schmeckende Ohr und bohrte ihm beide Daumen in die Augäpfel. Der Wolf löste seine Zähne aus Kimis Schulter, schüttelte Istvan mit einer einzigen Bewegung ab und schnellte herum. Istvan war auf den Rücken gefallen. Der Wolf starrte auf ihn herunter. Gelber Geifer tropfte aus seinem Maul. Als er zuschnappte, riss Istvan den rechten Arm vor sein Gesicht, und der Wolf biss durch Haut, Fettgewebe, Muskeln und Sehnen vier kreisrunde Löcher bis auf den Knochen. Istvan schrie, und in einem Haus gingen die Lichter an. Ein Fenster wurde aufgestoßen. Der Wolf ließ von seiner Beute ab und flüchtete in langen Sprüngen die Straße hinunter. Mitten im Lauf schnappte er sich einen der prall gefüllten Müllsäcke, die am Straßenrand standen, und verschwand mit seiner Beute in der Dunkelheit.
    Stepan
    Rotkäppchen wohnte in Vifor, einem der höher gelegenen Bergdörfer. Ihr Vater war Kimi Topolov, der Gemeindediener, und ihre Mutter hatte angeblich schon einmal im Gefängnis gesessen. Die ganze Familie – ich glaube, es waren zwölf Geschwister, aber genau kann ich das nicht sagen, weil auch immer irgendwelche Cousins oder Cousinen zu Besuch waren – lebte in einer Holzbaracke, durch deren Bretter der Wind pfiff. Rotkäppchen war nicht das älteste und nicht das jüngste Kind, sondern irgendwo dazwischen zur Welt gekommen, als fünftes, siebtes oder achtes. Sie war ziemlich hübsch – wenn man die großnasige, herbe und schnellverblühende Schönheit unserer Bergmädchen zu schätzen weiß –, freundlich und hilfsbereit, und trotz ihrer merkwürdigen und auffälligen Kopfbedeckung hatte sie jeder, der sie kannte, gern. Mit Ausnahme ihrer eigenen Familie. Für die war sie so eine Art Fußabtreter. Eigentlich hieß sie ja auch Elsie. Rotkäppchen wurde sie genannt, weil ihre Großmutter, die alte Uchatka, einmal eine rote Kappe für sie gehäkelt hatte. Elsie war damals zwölf. Ich weiß nicht, wie das woanders läuft, aber hier bei uns in den Bergen ist es der soziale Tod, wenn jemand als Einziger auf dem Schulhof eine rote Kappe trägt, während alle anderen eine schwarze haben. Elsie wurde danach bloß noch ›Feuermelder‹, ›Rotkäppchen‹ oder ›Flammendes Inferno‹ gerufen – solche Namen halt. Ihre Geschwister trieben es am längsten und am ärgsten, und am allerärgsten trieb es die kleine Petronella. Elsie weinte und weinte und wollte überhaupt keine Kappe mehr aufsetzen, obwohl damals in Vifor ein neuer Kälterekord von minus 42 Grad gemessen wurde, und schließlich verbot die Mutter den Geschwistern, weiterhin ›Feuermelder‹ oder ›Zigarettenanzünder‹ zu Elsie zu sagen, sie dürften sie allenfalls Rotkäppchen nennen, das sei doch schließlich gar kein böser Name, da solle sich Rotkäppchen mal nicht so anstellen. Der Name ist ihr dann geblieben, und irgendwann war es ein Name wie andere auch, und die Hänseleien wurden seltener und gutmütiger, auch weil Rotkäppchen angefangen hatte, ihre Kappe mit erhobenem Kopf zu tragen. Ich war schon damals in sie verliebt. Einmal habe ich ein halbes Jahr lang mein Taschengeld gespart und ihr davon eine neue Mütze gekauft, eine schwarze, die

Weitere Kostenlose Bücher