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Grrrimm (German Edition)

Grrrimm (German Edition)

Titel: Grrrimm (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karen Duve
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hintere Ende der Eisenstange über die Innenverkleidung des Hubschraubers schrammte, und der Sani verlor die Nerven und drückte mir die Narkosemaske mit Gewalt auf.
    Zwei Monate später erwachte ich aus dem künstlichen Koma. Ein Haufen Ärzte und Neurowissenschaftler trieb sich den ganzen Tag bei mir im Krankenzimmer herum. Sie maßen ständig meine Gehirnströme, redeten über mich, als wäre ich gar nicht anwesend, und stellten mir Aufgaben, wie ich sie zuletzt beim Eignungstest für die Schulreife hatte lösen müssen. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, dass durch den Unfall weder mein Gedächtnis noch meine Intelligenz, Sprachfähigkeit oder Motorik beeinträchtigt worden waren. Das einzig Auffällige war, dass ich keine Angst mehr verspüren konnte. Nicht, dass ich vorher besonders ängstlich gewesen wäre, aber jetzt fürchtete ich mich vor rein gar nichts. Es gibt eine Zeitlupenaufnahme von einem Versuch, bei dem sie mich mit einer Gummischlange, die aus einem Geschenkkarton katapultiert wird, zu erschrecken versuchen – ich öffne den Karton, die Schlange springt mich an, und ich zucke nicht mal mit der Wimper; ich sitze einfach bloß still da und betrachte das Biest verwundert. Die Weißkittel stritten sich. Die eine Hälfte war der Meinung, dass eine Verletzung im unteren Frontalhirn die Regulation meiner emotionalen Prozesse störte. Die andere Hälfte hielt meine vollkommene Furchtlosigkeit für die Folgen eines Traumas, verbunden mit einer so schweren Depression, dass die Reflexe beeinträchtigt waren. Ich versuchte ihnen zu erklären, dass es einfach keinen Grund gab, noch vor irgendetwas Angst zu haben, wenn man einmal mit einer Eisenstange im Kopf auf dem Boden gelegen und gewusst hatte, dass der Tod nur noch eine Frage von Sekunden – bestenfalls Minuten – sein konnte. Im Grunde hätte ich ja längst tot sein müssen. Alles was jetzt noch kam, war sowieso mehr, als mir zustand.
    Sie schickten mich zu einer Therapeutin.
    »Sie belügen sich selbst«, sagte die Therapeutin, »und vielleicht können Sie auch Ihren Neurowissenschaftlern etwas vormachen, indem Sie es fertigbringen, wie ein Holzklotz dazusitzen, während eine Gummischlange aus dem Kasten hüpft. Aber wenn Sie mich überzeugen wollen, müssen Sie sich schon etwas Besseres einfallen lassen.«
    »Natürlich«, sagte sie, »wenn man sich auf nichts mehr einlässt, muss man sich auch um nichts mehr sorgen. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick verlockend. Aber was ist das dann noch für ein Leben?«
    »Sie müssen die Angst wieder ganz neu lernen«, sagte die Therapeutin. »Ziehen Sie los und lernen Sie, sich zu fürchten! Ansonsten sehe ich schwarz für Sie.«
    Es stellte sich heraus, dass Rotkäppchen und ich denselben Weg hatten. Ich ließ mir nämlich jeden Monat von ihrer Großmutter eine Salbe für meine Narben anmischen. Nicht, weil ich nicht genug Geld für Medikamente aus der Apotheke gehabt hätte – durch meine Fernsehauftritte war eine ganz ansehnliche Summe zusammengekommen –, sondern weil die alte Uchatka wirklich gut war in dem, was sie so zusammenbraute. Außerdem hatte ich klammheimlich gehofft, bei ihr etwas über Rotkäppchen zu erfahren. Es stimmte nämlich gar nicht, dass mir alles gleichgültig war. Rotkäppchen war mir überhaupt nicht gleichgültig. Ich hatte bloß keine Angst mehr, dass sie mich abweisen könnte. Und deswegen ging ich in aller Seelenruhe neben ihr her und beobachtete sie von der Seite. Sie war einige Zentimeter gewachsen, seit ich sie zuletzt gesehen hatte, aber trotzdem kleiner als ich, ihre Figur war in den unförmigen Kleiderklumpen nicht erkennbar, und sie hatte immer noch ihr krauses schwarzes Haar, das ihr über die Schulter quoll und oberhalb ihres Kinns in der leuchtend roten Kappe verschwand. Nachdem sie mich ausführlich über meinen Unfall ausgefragt hatte, erzählte sie mir haarklein, was ihrem Vater und Istvan Brani zugestoßen war, und wie sie zu dem Hund gekommen war, der wie ein dünner Wolf aussah und an der Leine neben uns herlief.
    »Du bist noch hübscher geworden«, sagte ich, »aber die Klamotten, die du trägst, sind schlimm – wo hast du um Himmels willen die Moonboots her?«
    »Grrrimmmmm«, machte der Wolf, schnappte aber merkwürdigerweise nicht nach mir, sondern stürzte sich auf Rotkäppchens Füße. Sie sprang erschrocken zur Seite.
    »Na, das ist ja ein reizendes Mistvieh«, sagte ich. »Am besten, du bringst es der Tierschutztante noch heute wieder

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