Grrrimm (German Edition)
Uchatka gab mir ein Zeichen, aber als ich versuchte, Kimi zu packen, stieß er seinen Kiefer vor und schnappte wie ein Wolf um sich, sodass ich schleunigst meine Hände zurückzog. Dann trat er mir in den Bauch, rannte zum Fenster und schlug die Scheibe mit der bloßen Faust ein. Der eisige Nachtwind fuhr fauchend ins Zimmer. Mit seiner blutüberströmten Hand riss Kimi das Fensterkreuz und den Rahmen heraus, trampelte brüllend darauf herum und stürzte sich anschließend auf den Kleiderschrank, trat die Sperrholztüren ein und schlug alles in Stücke.
Inzwischen waren die älteren Jungen mit den Stricken aus der Scheune zurückgekehrt und mit einem – ich glaube, es war Joppi – warf ich mich von hinten auf Rotkäppchens Vater und gemeinsam rangen wir ihn zu Boden, wo Kimi ermattet liegen blieb und alle Wut aus ihm wich.
»Fesselt mich ans Bett«, flehte er leise, »und bindet mich ganz fest. Ich kann sonst für nichts garantieren.«
Wir halfen ihm auf und er legte sich selber wieder ins Bett und hielt uns seine Hände und Füße hin und forderte uns immer wieder auf, sie ja recht stramm an die Bettpfosten zu binden. Er gab nicht eher Ruhe, bis Joppi ihm noch einen Strick über den Bauch gelegt und auf der Unterseite des Bettes verknotet hatte.
»Ich rufe jetzt einen Rettungswagen«, sagte Rotkäppchen, und ich gab ihr mein Handy. Die alte Uchatka setzte sich zu Kimi aufs Bett und wickelte den Verband von seiner Schulter. Die Wunde sah abscheulich aus: ein einziger Eitersee, auf dem schwarzer und grüner Schorf schwammen. Uchatka ließ sich den Korb geben und baute ihre Töpfe und Tinkturen auf dem Nachttisch auf. Nun fiel Kimi ein, dass er unbedingt zum Internetcafé hinüberlaufen müsse, ja jetzt, genau jetzt, und dass er sterben würde, wenn sie ihn nicht ließen. Er bäumte sich auf und rüttelte an den Stricken und hatte plötzlich mit Unmengen von Speichel in seinem Mund zu kämpfen, Speichel, der ihm in einem unendlichen Strom unter der Zunge hervorquoll, ihm rechts und links aus den Mundwinkeln troff, sein Kinn hinunterrann und seine Aussprache schwer verständlich machte, wenn er mit drohendem Gesichtsausdruck wieder etwas anderes verlangte: Mal war es der Spiegel an der Wand, dessen Glitzern er keine Sekunde länger ertragen konnte, mal der Anblick der kleinen Medizintiegel, mal der Anblick der Schatten, die seine Kinder unter der Zimmerlampe warfen. Rotkäppchens Geschwister beeilten sich, alles, was ihren Vater aufregte, so schnell wie möglich aus seinen Augen zu schaffen, sofern es in ihren Möglichkeiten stand, aber eine Minute später entdeckte ihr Vater schon wieder etwas anderes, dessen Anblick ihm so zusetzte, dass er sich vor Abscheu und Furcht in seinen Fesseln wand. Gegen ein Uhr nachts bekam er noch einmal einen Fieberanfall. Sein Speichel floss nun in solchen Mengen aus ihm heraus, dass er gar nicht mehr sprechen konnte. Gegen halb zwei begann er zu grimassieren wie ein Teufel, fiel in unbeschreibliche Zuckungen und verstarb.
Elsie
Der Rettungswagen traf erst am nächsten Morgen ein. Der Notarzt schrieb Tollwut als Todesursache in den Totenschein. Er fragte, ob irgendjemand gebissen worden wäre oder ob es Schleimhautkontakte gegeben hätte, und wir bekamen vorsichtshalber alle eine Tollwutimpfung. Aber im Grunde wusste der Arzt so gut wie wir, was es mit Vaters Tod auf sich hatte, und er beeilte sich, wieder fortzukommen, damit wir die wirklich notwendigen Vorkehrungen treffen konnten. Vor allem war es jetzt wichtig, dass Vater so schnell wie möglich auf dem Bauch liegend begraben wurde. Zuvor steckten wir ihm noch Knoblauchzehen in Nase, Ohren und Mund, und Großmutter riss eine Seite aus der Bibel und legte sie ihm gerollt unter die Zunge. Ich holte eine geweihte Kerze aus der Kirche. Joppi steckte sie an und tropfte das Wachs in Vaters Bauchnabel. In den Sarg legten wir neun kleine Steine und einen Weißdornzweig. Der Deckel wurde mit 50 extra dicken Schrauben verschlossen. Eine Aufbahrung fand nicht statt, und die Trauerfeier wurde in aller Kürze abgehalten. Niemand stellte deswegen Fragen. Alle hier aus der Gegend wussten, was los war. Man sprach nur nicht darüber. Es gab schon genug Gerüchte. Einerseits kommen die Touristen natürlich genau wegen dieser Gerüchte hierher – sie wollen sich ein wenig gruseln und darüber lustig machen. Aber wenn sie auch nur ein einziges Mal einen Werwolf von Weitem gesehen oder beobachtet hätten, wie ein Wiedergänger einen Friedhof
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